43. Kapitel

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„Es war... gut. Besser als erwartet. Ich glaube, meine Mutter versteht jetzt mehr, wie es mir geht. Ich habe mit ihr eine Doku über ein Transmädchen gesehen und ihr hin und wieder erklärt, dass es mir genauso geht. Vielleicht habe ich sie einfach ein bisschen überfordert...", antwortet Binah jetzt.
„Dann sagt sie jetzt auch endlich Binah und benutzt die richtigen Pronomen?", frage ich und sehe meine Freundin freudig an. Es ist so schön, dass ihre Eltern auch endlich verstehen, wie ernst das alles ist. Es ist keine Phase, um sich auszuprobieren. Binah ist endlich sie selbst. Das Mädchen, was sie schon immer war.
„Ja. Sie gibt sich zumindest viel Mühe. Und..." Sie grinst mich breit an und ich sehe sie erwartungsvoll an. „Sie hat mir versprochen, für Weihnachten ein Kleid zu kaufen. Und das darf ich sogar bei meiner Familie anziehen. Auch wenn ich bei denen noch nicht geoutet bin. Zumindest nicht wirklich."
„Wie cool! Ich freue mich so für dich, Binah!" Wie zur Bestätigung mache ich einen schnellen Schritt auf meine Freundin zu und nehme sie in die Arme, als sich ein Gast des Cafés ankündigt.
Unsere Blicke gleiten synchron zum Ladeneingang, wo jetzt ein uns bekanntes Gesicht zum Vorschein kommt.
Ich kann mir ein genervtes Stöhnen nicht verkneifen. „Marie...", murmele ich leise in Binahs Richtung.
„Ganz toll...", kommt es von ihr ironisch zurück.
Marie steht mit eingeschränkten Armen am Eingang. Ihre*n Freund*in Alex hat sie heute nicht dabei, was die Sache allerdings auch definitiv nicht verbessert.
„Hallo Marie...", murmele ich. Ich versuche wirklich, Höflichkeit mit in meine genervte Stimme zu mischen, allerdings gelingt mir das nicht so wirklich.
„Aha, Jule und ihre Freundin." Sie betont das letzte Wort so arrogant, als würde sie mir nicht glauben, dass sich irgendein Mädchen auf dieser Welt für mich interessiert und auch noch eine Beziehung mit mir eingeht.
„Sie ist meine Freundin.", greift Binah ein und nimmt wie zur Bestätigung meine Hand. Es fühlt sich gut an, ihre warme Hand in meiner zu spüren. Als würde sie mir damit Kraft geben. Kraft, mit der ich auch diese nervige Situation meistern kann.
„Ich dachte, du bist lesbisch?", wendet sich Marie jetzt an mich. Sie steht noch immer arrogant auf uns hinabblickend am Eingang. Sie hat sich keinen Millimeter bewegt, seit sie reingekommen ist.
„Ja?" Ich habe keine Ahnung, worauf Marie jetzt hinauswill. Sie wirft Binah einen Blick zu. Er zieht sich über ihre Haarspitzen bis zu den Zehen. Was will Marie denn von ihr?
„Ich weiß ja nicht, in welcher Welt ihr lebt, aber Leute mit einem Penis sind keine Mädchen, das nennt sich Biologie."
Ich sehe wie sehr Binah sich zusammenreißen muss. Ich werfe ihr einen aufmunternden Blick zu, um ihr zu versichern, dass ich die Situation schon meistern werde. Sie braucht sich keine Sorgen zu machen, ich werde Marie schon die Meinung sagen.
„Und du denkst ernsthaft, ein Blick zwischen die Beine sagt, welches Geschlecht man hat?", erwidere ich jetzt. Binah steht geschützt hinter mir. Sie sieht so klein und hilfsbedürftig aus, dass ich sie am liebsten geschützt in meine Arme nehmen würde. Aber ich muss gerade einfach mal klarstellen, dass Marie Müll labert.
„Ja. So war es schon immer und so wird es auch immer bleiben.", kommt es von ihr und jetzt bewegt sie sich einen Schritt auf uns zu. „Du bist und bleibst immer ein Junge. Da kannst du noch so oft deinen Namen ändern oder Mädchensachen tragen."
Ich spüre wie Binahs Atem beschleunigt. Sie sieht nicht gut aus.
„Verschwinde! Sofort!", brülle ich jetzt. Aber Marie scheint gar nicht daran zu denken.
Ich drücke Binahs Hand extra fester, um ihr zu zeigen, dass ich da bin und immer für sie da sein werde, aber als ihr Atem noch schneller wird uns sie sich von mir löst, fühle ich mich auf einmal so hilflos. Binah hält kurz inne und verschwindet dann durch die Tür in die Kälte.
„Wir sind noch nicht fertig!", funkele ich Marie nur an, um dann Binah hinterher zu rennen.
„Jetzt habe ich aber Angst!", höre ich Marie noch ironisch hinter mir herrufen. Wie konnte ich dieses Mädchen nur mögen? Gott, sie ist so eine Idiotin!
Als ich wenige Sekunden draußen bin, breitet sich eine Gänsehaut auf meinen Armen aus. Es ist richtig kalt geworden, aber das ist mir komplett egal. Ich will nur wissen, wo Binah ist. Mehr nicht. Auch wenn ich dafür erfriere. Es ist mir egal.
„Binah", brülle ich in die Kälte, sodass sich eine Rauchwolke vor meinem Mund bildet. Langsam steigt sie in den Himmel.
„Binah?" Ich sehe mich hektisch nach links und rechts um, aber meine Freundin ist nirgends zu sehen. Mist! Ich habe alles ruiniert. Ich hätte Marie einfach direkt wegschicken sollen. Nur wegen mir haben wir jetzt dieses Problem. Wieso muss Marie auch immer so gemein sein? Sie ist doch selbst mit Alex zusammen und Alex ist doch nichtbinär oder habe ich das falsch verstanden? Somit wäre Alex doch auch nicht cis.
Ich laufe ums halbe Gebäude herum. Es ist mir egal, dass das Café offen steht und niemand zum Bedienen drinnen ist. Das hier ist jetzt wichtiger. Wo ist Binah nur hin?
Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche und öffne den Chat mit ihr, um dann auf das Anrufsymbol zu klicken. Ich presse mir das Handy ans Ohr. Das Freizeichen ertönt. Einmal. Zweimal. Dreimal. Binah rührt sich nicht. Wo ist sie nur hin?
Ich renne weiter um das Gebäude, als ich sie endlich erblickt.
„Binah!" Ich stecke mein Handy wieder ein und renne auf sie zu. „Du bist du ja." Sie sitzt auf einem kalten Stein hinter dem Café. Über ihr ganzes Gesicht ziehen sich Tränen.
Ohne etwas zu sagen, setze ich mich neben sie und nehme meine Freundin in den Arm.
„Marie ist so eine Idiotin.", murmele ich nur nach einer Weile. Binah hat sich an mich geschmiegt und ich spüre, wie ihre Tränen auf meinen Pullover hinabkullern. Er wird immer nasser, sodass ich noch mehr friere, aber das ist mir egal. Hauptsache ich bin bei Binah, denn sie braucht mich gerade.
„Bin ich... kein richtiges Mädchen?", schnieft Binah. Ihr Kopf liegt sanft auf meiner Schulter, sodass ihre gekräuselten Haare mich an der Wange kitzeln.
„Doch. Natürlich bist du das! Du bist mehr Mädchen als Marie. Sie ist nur ein Idiot, mehr nicht. Lass dir von ihr nichts sagen. Du bist genauso ein Mädchen wie ich.", erwidere ich. Es stimmt. Geschlecht hat nichts mit dem Körper zu tun. Geschlecht ist ein Gefühl. Ein Gefühl, was nun mal nicht immer zu dem passt, was der Körper aussagt.
„Sie scheint das aber anders zu sehen...", kommt es wieder von Binah.
„Na und? Marie ist halt dumm. Blöd. Bescheuert. Ihr einziges Ziel ist es, Leute runterzumachen, nur damit sie sich dann besser fühlt. Hör nicht auf sie."
Anstatt auf mich einzugehen, murmelt Binah nur „Wie konntest du in sie verliebt sein?".
„Ich... Ich weiß es nicht.", gebe ich zu. Ich habe mich das so unglaublich häufig gefragt und langsam sollte ich echt damit aufhören. Ich war nie in Marie verliebt. Ich war in die Person verliebt, von der ich dachte, dass Marie sie war. Aber das war sie nicht. Nie. Bei keiner einzigen Begegnung mit ihr war sie echt. Aber Binah ist echt. Und toll. Und nett. Und so unglaublich wunderschön, dass ich sie am liebsten sofort küssen würde.
Ich schmiege mich noch etwas näher an Binah. Mein Blick richtet sich auf ihre Augen. Ich sehe, dass darin noch immer Tränen glitzern, aber sie scheint nicht mehr zu weinen. Unser Blick haftet eine Weile aufeinander, während ich überlege, ob ich sie küssen soll.
„Öffnet das Café auch mal?", höre ich da eine tiefe Stimme von vor dem Café erklingen.
„Anscheinend nicht. Ich warte auch schon lange. Ich werde das mal der Besitzerin melden.", erklingt dann Maries Stimme.
„Sie ist so... so ein...", setzt Binah wütend an.
„Ein Arschloch. Und deswegen lassen wir uns von ihr nichts sagen und werden jetzt das Café eröffnen. Wir schicken sie einfach raus und wenn wir das Café geschlossen haben, machen wir noch was Schönes zusammen, okay?", schlage ich vor.
Binah nickt und lächelt knapp. Sie wischt sich eine letzte Träne aus dem Augenwinkel, um dann mit mir zum Eingang des Cafés zu laufen, wo schon eine kleine Traube an Menschen darauf wartet, dass wir das Café endlich öffnen. 

You make it feel like Christmas (Deutsch, girlxgirl)Where stories live. Discover now