Grabeskälte II

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»Jeanne?«, rief Ejahl in die Zerstörung des Herrenhauses. Er war sicher, dass sie ihn schon bemerkt hatte und sich irgendwo versteckte oder versuchen würde, vor ihm zu fliehen.

»Wir haben Viera.« Er drehte sich um die eigene Achse, eine Hand lag auf dem Knauf seines Dolches. »Und so sehr ich sie auch mag, ich habe kein Problem damit, ihr jeden Knochen im Körper zu brechen, um dich hervorzulocken.«

Die Eingangshalle erhob sich still vor ihm und sein Blick schweifte zu der Balustrade des Obergeschosses. Kein Schatten huschte durch die Gänge, kein Geräusch wies auf Jeannes Verbleib hin. Nichts, außer die Kälte, wegen der sich die Härchen in Ejahls Nacken aufstellten.

Ein leises Rascheln ertönte an seinem linken Ohr. Er wirbelte herum, eine Klinge blitzte auf, und er machte einen Satz zur Seite.

»Du hättest uns einfach allein lassen können.« Jeanne knirschte mit den Zähnen und drehte ihren Dolch in der Hand. »Wir hätten dich nicht mehr gestört.«

»Darum geht es nicht!« Ejahl zog seine Klinge. Lang genug hatte er das Brodeln seines Zornes unterdrückt. »Du hast mich verraten! Und auch noch V in die Sache hineingezogen! Sie ist doch nicht mehr als ein Kind! Was zur Hölle hat dich dazu gebracht, dass du nicht nur die Deinen verlässt, sondern mir auch noch ein Messer in den Rücken rammst?«

»Ist das nicht unwichtig?«, erwiderte Jeanne. Ihr Blick huschte durch den Raum auf der Suche nach einem Ausweg.

»Unwichtig?« Seine Stimme glich einem Knurren. Er hastete nach vorn, sie blockte, aber die Wucht des Angriffes ließ sie zurücktaumeln. Er setzte nach, griff nach ihrer Kehle. »Warum?«, fragte er erneut. Zorn zerfurchte sein Gesicht.

Ihre Klinge streifte seinen Arm, ehe er zurücksprang. Jeanne nutzte die Chance, sprang auf die Beine und wich zurück.

»Kommst du echt nicht allein drauf?«, fuhr sie ihn an. »Du hast mich nicht gerettet, als du mich bei den Dieben aufgenommen hast.«

Er hatte erneut mit seiner Klinge ausholen wollen, doch nun stockte er. »Du wärst ohne mich gestorben.«

»Und? Vielleicht wäre der Tod besser gewesen.« Diesmal kam der Angriff von ihr. Ejahl wich zurück. Ihr Dolch riss den Stoff an seinen Rippen auf und schnitt ihn, als sie nachsetzte, in die Haut.

Er schlug ihr mit dem Knauf ins Gesicht. So nah, wie sie war, gelang es ihr nicht, ihm rechtzeitig zu entgehen. Sie taumelte zurück und fuhr mit der Zunge über ihre Unterlippe, traf auf ihr eigenes Blut.

»Du hättest den Tod über das Leben gewählt?«, fragte er. Er erinnerte sich noch genau daran, wie er Jeanne zum ersten Mal getroffen hatte. Ein junges Mädchen, nicht mehr als ein Häufchen Elend, abgemagert und fast erfroren.

Durch Ava, die bei ihm zu Hause auf ihn gewartet hatte und nichts von den Dieben erfahren sollte, war ihm nur übrig geblieben, Jeanne in das nächste Diebesversteck zu schicken, nachdem er ihr eine Mahlzeit und warme Kleidung gegeben hatte. Nach Cyrill.

»Deine Art der Ausbildung ...« Sie sprach das Wort wie eine Beleidigung. »Manchmal kam ich mir eher vor wie eine Hure als eine Diebin. Ich kann meinen Körper kaum noch spüren, ich ...« Sie brach ab und ihr Blick verhärtete sich, als sie bemerkte, dass sie mehr von sich preisgegeben hatte, als sie wollte. »Und Niellen ermöglichte mir einen Ausweg. Er gab mir genug Gold, um ein neues Leben zu beginnen, und ich musste nichts anderes tun, als ihm von Euren Plänen zu berichten.«

Der Zorn in Ejahl verebbte langsam und an dessen Stelle trat etwas anderes. Etwas Kaltes, etwas Eisiges. Er konnte nicht abstreiten, dass es eine Zeit in seinem Leben gab, in der ihn solche Anschuldigungen nicht gekümmert hatten, in der sein Verstand zu vernebelt gewesen war, um zu erkennen, wenn jemand in seinen Armen lag, der dort nicht sein wollte.

Die Anzahl der Frevel, die er beging, konnte er schon lange nicht mehr an beiden Händen abzählen, aber seine größten Verbrechen gehörten der Vergangenheit an. Seit Ava in sein Leben getreten war, hatte er stets versucht, ein Besserer zu sein als noch am Vortag. Er würde lügen, würde er behaupten, dass es keine Rückschritte gab, aber er war nie mehr so tief gesunken wie damals.

Dachte er.

»Ich ...«, setzte Ejahl an, aber keine Worte wollten sich auf seiner Zunge formen, also schloss er seinen Mund wieder. Erst nach einigen Sekunden, in denen sich keiner der beiden rührte, versuchte er es ein zweites Mal. »Ich hatte keine Ahnung.«

Jeanne stieß nur ein Schnauben aus.

»Hätte ich es gewusst, dann ...« Was dann? »Es wäre mir nicht egal gewesen.« In einer Sache wollte er sich stets von den Raben abgrenzen: der freie Wille. Jeder Attentäter war auf die ein oder andere Art an den Schwarm gebunden, aber er wollte nicht, dass ein Dieb unter seinem Kommando stand, der nicht aus freien Stücken bei ihm war.

»Verzeih mir, dass ich es nie bemerkt habe.« Er wandte sich ab und steckte seinen Dolch zurück. »Ich werde nicht versuchen, dich weiterhin aufzuspüren, aber um eine Sache bitte ich dich trotzdem: Halte dich von V fern. Sie ist zu unbedarft für diese Welt und ich hätte sie gar nicht auf die Reise mitnehmen sollen. Um ihrer Sicherheit willen ist es besser, wenn sie mich hasst und glaubt, du wärst tot.«



Das Tor quietschte, als Ejahl das Anwesen verließ. Nur wenig später fand er Kematian und V am Wegesrand. Das Mädchen saß auf dem Boden, die Beine angezogen und den Kopf in ihren Händen vergraben. Der Rabe überwachte sie, selbst als er hörte, wie Ejahl sich näherte.

V hingegen hob den Blick. In ihren geröteten Augen blitzte etwas auf, das dem Meisterdieb nur zu bekannt war.

Hass.

Er wäre überrascht, würde sie ihn nach all dem, was sie glaubte, das geschehen war, nicht hassen. Ein schwerer Seufzer formte sich in seiner Brust, trat aber nie über seine Lippen.

»Wir brechen auf«, sagte er. »Du solltest zurück zu Luana.«

V sprang auf die Füße und Kematian griff nach ihrem Kragen, um nicht zu riskieren, dass sie fortlief. Sein Blick verdunkelte sich, als er auf Ejahl traf. Er erkannte, was vorgefallen war.

»Nein«, sagte V. »Mit Euch gehe ich nicht. Ihr ...«

»Dann vielleicht mit mir?« Die Stimme war so plötzlich neben ihr aufgetaucht, dass sie einen Satz zur Seite machte, nur damit sich ihr Oberteil, das der Rabe hielt, in ihre Kehle schnitt.

»Es ist mir eine Freude, Euch wiederzusehen«, sagte Murasaki. Sein Blick fiel auf Kematian und sein Lächeln erstarb. »Es ist mir jedoch keine Freude, Euch wiederzusehen.«

Der Rabe brummte nur leise etwas.

Murasaki kümmerte es nicht und er wandte sich an Ejahl. »Ihr habt weit Wichtigeres zu tun, als in den Süden zu reisen. Ihr könntet das Spannendste hier verpassen und das wollen wir doch nicht.«

»Ich gehe mit ihm«, sagte V schnell. Alles war besser, als Ejahls Gegenwart nur eine Sekunde länger erdulden zu müssen.

Murasakis Lächeln gewann eine Spur von Hohn. »Dann ist es beschlossen.« Er hielt ihr seine Hand entgegen.

Sie schüttelte Kematians Griff ab, denn dieser lockerte sich unter dem kalten Blick des Erzählers, und ergriff die ausgestreckte Hand. Fest schlossen sich seine Finger um sie.

»Auf Wiedersehen, meine Werten«, sagte Murasaki und nickte Ejahl und Kematian zu. Er stockte für einen Moment und legte seinen Kopf schief. »Auf ... Nimmer-Widersehen, wie mir scheint.«

Die Umgebung vor Vs Augen löste sich auf und nur einen Wimpernschlag später, stand sie in dem Gemeinschaftsraum der Zuflucht, die ihr so viele Jahre lang ein Zuhause war.

The Tale of Greed and VirtueWhere stories live. Discover now