Frost I

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Warum hatte sich V nur darauf eingelassen? Warum besaß Ava nur die Fähigkeit, sie zu den dümmsten Ideen zu überreden?

V hatte ihr von dem Herrenhaus im Wald und der Begegnung mit dem Fremden erzählt und als die anderen, zwei Tage später, immer noch keine Spur gefunden hatten, waren die beiden selbst aufgebrochen. V war schließlich schon einmal auf die Lichtung gelangt. Wie schwer konnte es sein, es auch ein zweites Mal zu erreichen?

»Dümmste Entscheidung meines Lebens«, murrte V, während sie sich durch das Unterholz schlug.

›Mach dir keine Sorgen‹, hatte Ava gesagt. ›Wenn irgendwer dort ist, werde ich es als Erste bemerken.‹

Und V hatte ihr geglaubt. Wobei ... ›glauben‹ war ein zu starkes Wort. Sie war ihr naiv gefolgt und sei es nur, weil sie es in den engen Tunneln der Zuflucht keine Sekunde länger ausgehalten hatte.

»Du bist dir sicher, dass wir auf dem richtigen Weg sind?«, fragte Ava, die nicht ganz so große Anstrengung aufbringen musste, sich durch das Unterholz zu kämpfen, denn sie folgte der schmalen Schneise, die V schlug.

»Nein«, brummte V. »Letztes Mal bin ich Dasan gefolgt. Ich weiß nur, dass er irgendwo hier in den Wald abgebogen ist. Danach bin ich blind gerannt.«

Hatte sie schon erwähnt, dass sie unbewaffnet war? Sie trug nie eine Waffe bei sich, schließlich konnte sie mit keiner umgehen. Aber gerade jetzt wünschte sie sich die Sicherheit, die ihr zumindest ein kleines Messer bieten würde.

Zum Glück war Ava bei ihr und an ihrem Gürtel baumelte der Dolch, den sie sogar richtig einzusetzen wusste.

»Findest du es nicht seltsam, dass euch das Herrenhaus nie aufgefallen ist?«, hörte V hinter sich. »Und dass die anderen es jetzt auch nicht wiederfinden können?«

»Mhm«, machte sie.

»Ich meine, so etwas bemerkt man doch. Und du bist einfach darüber gestolpert. Was für ein Glück.«

»Pech«, korrigierte V. »Es war reines Pech.«

»Du bist so pessimistisch.«

»Ich bin realistisch. Das ist ein Unterschied.«

Ava räusperte sich und verstellte ihre Stimme. »Pech«, ahmte sie Vs Worte nach. »Es war reines Pech.«

V warf ihr einen Blick zu, der eigentlich ernst wirken sollte, aber ihr Lächeln verriet sie. »Ich versuche, mich zu konzentrieren und den Weg wiederzufinden.«

»Und ich sorge dafür, dass du dich nicht konzentrieren kannst?« Ava griff sich erschüttert an die Brust. »Ich hoffe, du vergibst mir dieses schreckliche Vergehen.«

V brummte nur und wandte sich ab, bevor sie sich noch in dem Gespräch mit Ava verlieren konnte. Einige Schritte später blieb sie stehen. »Ich glaube, das hier kommt mir bekannt vor.«

Ava sah sich um. Bäume, Bäume und noch mehr Bäume. »Aha«, machte sie nur.

»Ich glaube«, V drehte sich einmal um die eigene Achse und deutete dann tiefer in den Wald hinein, »wir müssen dort entlang.«

»Na dann«, sagte Ava. »Ich folge dir.«

V schenkte ihr ein zuckersüßes Lächeln. »Ich dachte eigentlich, nun, da ich dir den Weg gewiesen habe, kannst du anführen.«

Ava blickte von V auf das Astgewirr, durch das sie sich kämpfen mussten, zurück auf V. Sie seufzte. »Es ist nur gerecht, wenn ich auch ein bisschen der Arbeit übernehme.«

»Genau«, stimmte V ihr zu.

Ava seufzte erneut, diesmal sehr viel wehleidiger. »Nur weil du es bist.«

The Tale of Greed and VirtueWhere stories live. Discover now