Wenn der Mond fällt und es Sterne regnet

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Die Sonne erhob sich langsam hinter dem Horizont und blendete Sorah mit ihrem Licht. In tiefster Nacht waren sie aufgebrochen, um die Rauchsäule, die sich nahe Cyrill in den Himmel schraubte, so weit wie möglich hinter sich zu lassen.

Die Kutsche bebte. Sorah stützte sich an dem Fensterrahmen ab, um nicht durch die Kabine geschleudert zu werden.

Ein leichtes Kribbeln in ihrer Wange verriet, dass ihr Gegenüber ihre Aufmerksamkeit suchte, doch sie behielt ihren Blick weiterhin starr aus dem Fenster gerichtet.

»Eine schöne Aussicht?«, hörte sie Niellens Stimme. Wäre er nicht bei ihr, hätte Sorah die Fahrt vielleicht sogar genießen können.

Besser als hier drinnen, dachte sie, aber sie zügelte sich, es auszusprechen und brummte nur einen Laut der Zustimmung.

Einige Sekunden vergingen in Stille, bis Niellen erneut das Wort ergriff: »Cyrill war deine Heimat, nicht wahr?« Er gab Sorah einen Moment Zeit, um zu antworten, doch als dies nicht geschah, fuhr er fort: »Wenn alles wie geplant läuft, dann werden wir bald zurückkehren können. Der Meisterdieb wird in den Tunneln seinen Tod finden und ohne ein Oberhaupt werden die Elstern sich gegenseitig zerreißen. Wir werden es aus der Ferne beobachten und uns zurückholen, was uns gehört, wenn sich die Asche gelegt hat.«

Sorah wandte den Blick von dem Fenster ab und richtete ihn auf Niellen. Von der Art, wie er sich kleidete, könnte ihm niemand ansehen, dass es sich bei ihm um einen Raben und nicht etwa einen anständigen jungen Mann handelte. Das schwarze Hemd zeigte keine unansehnlichen Falten und darüber trug er eine dunkelgraue Weste. Sein Mantel, ebenfalls in Schwarz, lag ihm locker über den Schultern und er hatte sich nicht die Mühe gemacht, in die Ärmel zu schlüpfen.

Seine dunklen Haare, die ihm bis zu den Schultern reichten, hatte er ordentlich zurückgekämmt. Doch dadurch zeigte er auch den einzigen Makel in seinem Äußeren. Eine Schramme direkt über seiner linken Augenbraue. Vor einigen Wochen war er blutüberströmt im Nest aufgetaucht, nachdem er einen Kampf mit dem Meisterdieb ausgefochten hatte.

Seit diesem Tag hatte er Sorah kaum allein gelassen. Sie konnte nur erahnen, was vorgefallen war: Ihr Mentor ein Verräter und sie eigentlich todgeweiht.

Ihr Blick traf Niellens dunkle Augen und er schenkte ihr ein Lächeln. Sie öffnete den Mund, wollte etwas erwidern, aber schloss ihn wieder, ohne einen Laut von sich zu geben. Sie wandte sich ab. Es stand ihr nicht zu, ihn infrage zu stellen.

»Nur keine Scheu, mein Rotkehlchen«, sagte er.

Sorah zwang sich, eine ausdruckslose Miene zu behalten und keineswegs das Gesicht zu verziehen. Wenn es nach ihr ginge, könnte er den Spitznamen auch wieder vergessen.

»Sag mir, was dir auf dem Herzen liegt.«

Viel, dachte sie. Die Worte auf ihrer Zunge wogen schwer und sie rollte sie kurz hin und her, ehe sie diese aussprach: »Was mache ich hier?« Sie hätte tot sein sollen, von dem Moment an, an dem er sie nach Kematians Verrat aufgegriffen hatte.

Sie sah an einen Punkt neben ihn, hütete sich, seinen Blick ein weiteres Mal zu erwidern.

»Aedal und Yareed stimmten dafür, dich umzubringen«, sagte Niellen. »Ich nicht. Und da du meinetwegen lebst, bist du auch meine Verantwortung.«

War das der Grund, weshalb sie ihn nur mit Handschuhen sah? Verstohlen schielte sie auf seine Finger. Auch jetzt trug er sie. Er stellte sicher, dass er sie jederzeit töten könnte, falls sie ein zu großes Risiko darstellte, und jemand wie er machte sich nur ungern die Hände schmutzig.

»Warum?« Ihre Stimme kratzte. Sie räusperte sich. »Warum habt Ihr mich am Leben gelassen?« Das Atmen in seiner Nähe fühlte sich an, als würde seine Hand an ihrer Kehle liegen, als würde ein Gewicht auf ihrem Brustkorb ihre Lungen daran hindern, sich mit Luft zu füllen.

The Tale of Greed and VirtueWaar verhalen tot leven komen. Ontdek het nu