Offene Geheimnisse II

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»Und was, wenn Eure Leute Ava auch nicht finden können?«, unterbrach V die beiden, ehe sich ein Streit entfachte.

»Dann warten wir, bis sie hier ankommt«, sagte Ejahl. »Ich bin mir sicher, dass sie hierher aufgebrochen ist. Wir kennen ihr Ziel. Das ist ein Vorteil, den wir nicht unterschätzen sollten.« Er wandte sich an Kematian und winkte ihn zu sich. »Möchtest du dich nicht auch setzen?«

»Wir hatten eine Abmachung«, meinte der Rabe, ohne auf die Bitte einzugehen.

»Ich bezweifle, dass du in der Position bist, dich darüber zu beschweren.« Ejahl schloss für einen Moment die Augen und rieb sich die Stirn. »Du hast –«

»Darf ich gehen?«, warf V schnell ein und erhob sich. Wenn die Fetzen flogen, wollte sie nicht zwischen dem Raben und dem Meisterdieb gefangen sein.

»Natürlich.« Ejahl stand ebenfalls auf und trat an sie heran. »Cyrill ist groß, also gib Acht, dass du dich nicht verläufst. Behalte die Kapuze auf und pass auf, dass dich niemand erkennt und ...« Er musterte sie. »Du bist unbewaffnet.« Er streckte seine Hand in Kematians Richtung aus und hielt kurz darauf einen Dolch, den er an V übergab.

»Ich weiß nicht, wie man damit umgeht«, gab sie zu und wog das kalte Metall in ihrer Hand.

Ejahl deutete auf den Griff. »Da festhalten und damit«, sein Finger tippte auf die Spitze, »zustechen.«

Kematian stieß ein Schnauben aus.

»Sie soll sich im Notfall verteidigen können«, meinte Ejahl an ihn gewandt, »und kein Rabe werden.«

»Sie wird so oder so keine Chance haben.«

Ejahl schüttelte nur den Kopf und drehte sich wieder zu V. »Wenn dich jemand erkennt, dann laufe. Wenn du jemanden angreifst, laufe. Wenn dir irgendetwas seltsam vorkommt, laufe. Wenn du jemanden mit dieser Maske siehst ...« Er streckte seine Hand zu Kematian aus.

Der Rabe rollte mit den Augen und holte eine Maske hervor, die mit schwarzem Stoff überzogen und zu einem Schnabel geformt war.

»Lasst mich raten«, meinte V. »Lauf?«

»Du lernst schnell«, antwortete Ejahl. »Du bist flink und das weißt du. Mach nichts Unüberlegtes und nichts auf eigene Faust.«

Für gewöhnlich strahlte er Leichtigkeit aus, aber dies legte er nun ab, damit seine Warnung umso deutlicher war. »Menschen sind grausam«, sagte er.

»Ich weiß«, murmelte V.

»Ungeachtet, ob Elfen oder Magier, sie sperren jeden ein, der anders ist. Alles, was sie nicht verstehen, werden sie nach und nach erdrücken.«

V schluckte. Sie hörte zwar stets von der Grausamkeit der Menschen, doch war dies noch nie gegen sie selbst gerichtet gewesen. Das größte Unglück, das ihr widerfahren war, hatte ein Elf über sie gebracht.

»Und vor allem in diesen Zeiten sind die Straßen Cyrills gefährlich.« Kematian ergriff das Wort. »Die Raben versuchen, sich die Vorherrschaft zurückzuholen, und beobachten von den Dächern aus jeden Winkel der Stadt.«

Warnte er sie gerade? Hatte er nicht Ejahl auf der gesamten Reise dazu bringen wollen, sie zurückzulassen? Und nun sorgte er sich, dass sie in der Stadt ihren Tod finden würde?

»Ich passe auf«, murmelte V.

Er antwortete nicht, nahm nur seine Maske aus Ejahls Hand und verstaute sie.

Ejahl lächelte V zu und klopfte ihr auf die Schulter. »Wenn irgendetwas sein sollte, dann weißt du, wo du uns finden kannst.«

Sie nickte nur und wandte sich ab.

The Tale of Greed and VirtueWhere stories live. Discover now