Die Nachtigall im Flieder II

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Und diese Stille blieb für einige Sekunden, bis V sie als Erste von sich schüttelte. »Was zur Hölle?«, murmelte sie.

Was war gerade überhaupt geschehen? Da war ein seltsamer Mann aufgetaucht, den Ejahl offenbar kannte und sie kennen sollte. Er hatte sich als Erzähler vorgestellt und verkündet, was den Dunklen König zu dem gemacht hatte, als was er heute bekannt war. Und dann war er einfach wieder verschwunden.

»Wer war das?« Ihr Blick richtete sich auf Ejahl, der weiterhin auf den Fleck starrte, auf dem der Erzähler vor wenigen Sekunden noch gestanden hatte.

Er lehnte sich im Sessel zurück und räusperte sich, aber seine Stimme war trotzdem kratzig, als er sagte: »Der Erzähler.«

V hob eine Augenbraue, aber Ejahl zuckte mit den Schultern und sagte: »Das ist alles, was ich über ihn erfahren konnte. Er hat keine Vergangenheit, keine Eltern, keine Heimat, aber er hat Verbindungen zu allen einflussreichen Leuten.«

Das klang noch gruseliger, als V erwartet hatte.

»Und wenn ich dir einen Rat geben darf: Traue ihm unter keinen Umständen.«

V sank in dem Polster des Sofas zusammen. »Hatte ich nicht vor.«

»Das sagt jeder, aber wenn er einem die Hand reicht, dann ergreift man sie trotzdem. Merke es dir. Auch, wenn er so klingt, als gäbe es keine Gegenleistung, irgendwann muss man den Preis dafür bezahlen, dass man seine Hilfe annimmt.«

V schluckte schwer. Der Meisterdieb sprach nur selten in so einem ernsten Ton.

»Aber da das nun geklärt ist ...« Ein Lächeln hellte seine Miene auf. Nur leider war es ein Wiesel-Lächeln, sodass V sich nicht in Sicherheit wog. »Ich würde gern mit dir über eine Sache sprechen, nun, da wir wissen, dass Jeanne noch lebt und wohlauf ist.«

Sie zog den Kopf ein. Das konnte doch nichts Gutes sein.

Er lehnte sich vor und hob verschwörerisch die Augenbrauen. »Ich weiß, was zwischen dir und ihr abgelaufen ist.«

Hitze stieg in Vs Wangen und sie wich seinem Blick aus. War es zu spät, um wegzulaufen? »Mit mir wurde schon das Gespräch geführt«, murmelte sie.

»Welches Gespräch?«, fragte der Meisterdieb.

»Na, das Gespräch.« Musste sie wirklich mit ihm darüber sprechen? »Ich weiß, wie«, sie wedelte hilflos mit den Händen, »es funktioniert.«

»Oh, das meinte ich gar nicht«, sagte Ejahl.

V wollte sich mit der flachen Hand gegen die Stirn schlagen und im Erdboden versinken. Hatte sie ihn jetzt vielleicht sogar auf die richtige Fährte geführt und eigentlich hatte er gar nicht gewusst, was sich auf dem Dach abgespielt hatte?

»Nun, so halb«, fuhr der Meisterdieb fort. »Ich bin mir sicher, dass Sal und Luana diesen Erziehungsauftrag an dich gut übernommen haben. Dazu kann ich dir nur sagen, dass du deine eigenen Erfahrungen machen musst, um herauszufinden, was dir gefällt.«

V bezwang den Drang, sich die Ohren zuzuhalten und anzufangen, laut zu singen. Am liebsten wäre sie im Boden versunken.

»Was ich aber eigentlich ansprechen wollte«, sagte Ejahl. »Wie willst du das mit Jeanne fortführen?«

»Huh?« V erwiderte seinen Blick, nur um sich im nächsten Moment wieder abzuwenden und ihn anzuschweigen. Dafür gab es zwei Gründe. Einerseits wusste sie keine Antwort, andererseits würde sie, wenn sie die Antwort wüsste, diese nicht mit ihm teilen.

»Ich spreche es an«, seine Stimme trug die seltene Ernsthaftigkeit, »weil du nichts Festes von einem Dieb erwarten solltest. Die meisten von uns stammen aus einer schweren Vergangenheit mit Drogen, Mord und Prostitution. Viele sind auf der Straße aufgewachsen und sahen die dunkelsten Abgründe.«

Ein kurzer Gedanke blitzte in ihrem Kopf auf: Inwiefern traf wohl, was er sagte, auch auf ihn zu? Sie schob es schnell beiseite. Vielleicht war es nicht die beste Idee, in Ejahls Vergangenheit zu graben.

»Deshalb sind wir gewöhnt, uns dort Vergnügen zu holen, wo wir es bekommen und dann Auf-Nimmer-Wiedersehen zu sagen. Und es ist auch nichts falsch damit, sich ein wenig die Zeit zu vertreiben und es bei etwas Zwanglosem zu belassen - ich bin wohl der Letzte, der das verurteilen sollte. Aber Diebe sind nicht für langfristige Beziehungen gemacht.«

Er rieb sich die Stirn. Die dunklen Ringe unter seinen Augen ließen ihn älter wirken, als er ohnehin schon war. »Du bist alt genug, um deine eigenen Entscheidungen treffen zu können, und ich möchte dir auch nicht vorschreiben, was du zu tun hast, aber ich bitte dich, über meine Worte nachzudenken. Und vor allem würde ich dir auch raten, mit Jeanne darüber zu sprechen, wenn sie zurück ist. So könnt ihr beide gemeinsam überlegen, wie es für euch das Beste ist.«

Er schloss für einen Moment die Augen und vergrub das Gesicht in den Händen. Die ganze Nacht war er wach geblieben, um nach Jeanne zu suchen, und auch davor hatte er selten Schlaf gefunden.

»Ich weiß, dass du nicht meine Tochter bist und es ist sicher auch gut, dass du nicht bei mir aufgewachsen bist, aber ich möchte trotzdem nicht, dass dir das Herz gebrochen wird und du auf die harte Art lernen musst, dass die Welt nicht so ist, wie sie in Märchen dargestellt wird. Sie ist bitter, sie ist kalt und Leute wie wir bekommen in den meisten Fällen kein glückliches Ende.«

»Ich ... verstehe«, murmelte V.

»Das sagst du nur, damit ich endlich aufhöre zu reden, nicht wahr?« Er öffnete die Augen wieder und hob den Kopf an. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen. »Eine Sache aber noch und dann lasse ich dich wirklich in Ruhe: Ich dachte immer, du und Ava?«

Hitze stieg in Vs Wangen. »Äh«, machte sie. Dass Ejahl auch alles herausfinden musste. Vor allem das, was nicht ans Licht gelangen sollte. »Sie mag mich nicht auf die Art«, murmelte sie. »Und ich mag sie auch als Freundin und dann ... können wir es so lassen, wie es ist.«

Ejahl nickte. »Und deshalb seid ihr zwei euch so lange aus dem Weg gegangen? Weil die Sache zwischen euch stand und keine von euch den ersten Schritt gehen wollte, sie zu klären?«

V murrte nur leise. Sie hatten es, so gesehen, nicht aus der Welt geschaffen. Ava war nur eines Tages unter Tränen bei ihr aufgetaucht und dann fortgelaufen.

»Gut, gut, ich will dich schon nicht länger nerven«, sagte Ejahl. »Da das nun alles geregelt ist, werde ich mich schlafen legen.« Er stand auf. »Wir reden später.« Mit diesen Worten verließ er den Raum.

V blieb noch einige Minuten zurück, ehe sie sich auch erhob. Sie musste über seine Worte nachdenken und das konnte sie nicht, wenn sie in einem dunklen Raum gefangen war und ihr die Decke fast auf den Kopf fiel.



Es schüttelte Ejahls Körper. Er drehte sich zur Seite und hustete. In der letzten Stunde war er zweimal so aufgewacht. Die Anstrengung, die es mit sich brachte, dass er nach Cyrill gereist war und sich nun dort um die Raben kümmern zu müssen, setzte ihm mehr zu, als er erwartet hatte.

Er wischte sich mit dem Ärmel Blut vom Mundwinkel und raffte sich auf. Er würde ohnehin nicht mehr schlafen können, also konnte er sich auch mit etwas Produktiverem beschäftigen, als stumpf im Bett zu liegen, die Decke anzustarren und die Zeit an sich vorbeistreichen zu lassen.

Kaum hatte er das Zimmer verlassen, stockte er. Vor der Tür wartete Kematian auf ihn, die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte er an der Wand.

»Du hättest auch hineinkommen können«, sagte Ejahl.

Wie er erwartet hatte, ging Kematian nicht darauf ein. Er stieß sich nur von der Wand ab und meinte: »Das Mädchen ist verschwunden.«

»Erst Ava und jetzt V.« Er seufzte leise. »Als Vaterfigur eigne ich mich wohl wirklich nicht.« Ein müdes Lächeln legte sich auf seine Lippen. »Dann lass uns sie suchen gehen.«

The Tale of Greed and VirtueWhere stories live. Discover now