Grabeskälte I

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V stieg die Stufen zu der aufgebrochenen Tür hoch. Seit das Herrenhaus verlassen stand, hatten die Gegner Tavarens und anschließend Räuber alles von Wert geplündert und den Rest zerstört.

Sie betrat die Eingangshalle. Stücke waren aus dem Boden gebrochen und die Marmortreppe, die in das Obergeschoss führte, lag zur Hälfte in Trümmern. An den Wänden zeichneten sich helle Rechtecke ab, dort, wo einst Gemälde hingen. Nur eines zierte die Halle. Ein Riss zog sich quer durch die Mitte, aber die Figur darauf war trotzdem zu erahnen. Ein junger Mann, der die Haare ordentlich zurückgebunden trug. Seine dunklen Augen blickten freundlich und zugleich entschlossen auf V herab.

Es war ebenjener, den Murasakis Zauber ihr gezeigt hatte. Tavaren Kestrel.

Sie schluckte und wandte sich ab. Den Herzog hatte sie nie kennengelernt, aber an diesem Tag fühlte sie seinen Blick auf ihrer Haut, hatte sogar seine Stimme gehört, und nun konnte sie nicht ganz begreifen, dass dieser Mann tot sein sollte.

Sie schüttelte den Gedanken aus ihrem Kopf und widmete sich dem, weshalb sie eigentlich hier war. »Jeanne?«, rief sie in das Haus.

Kurze Zeit antwortete ihr nur Stille, dann ertönte ein Poltern. An der Balustrade des oberen Stockwerkes tauchte die Diebin auf. »V? Was machst du denn hier?«

»Lange Geschichte«, meinte V. »Und dasselbe könnte ich dich auch fragen.«

»Ich habe mitbekommen, dass Ejahl in Kastolat ist«, sagte Jeanne. »Deshalb wollte ich nach einem neuen Platz für die Nacht suchen. Und so ein schönes verlassenes Herrenhaus ist doch ideal.«

»Besser als von Ejahl einen Kopf kürzer gemacht zu werden«, sagte V. Denn sie war sicher, wenn der Meisterdieb sie fand, dann bräuchten sie alles Glück der Welt, um zu überleben. Sie selbst hatte vielleicht eine Chance, Jeanne hingegen nicht.

»Gut, dass wir uns da verstehen«, sagte die Diebin. »Bleib kurz da, dann komme ich zu dir hinunter.«

»Warte«, hielt V sie auf. »Hast du irgendwo eine Grabstätte oder so gefunden?« Wenn sie schon hier war, dann könnte sie sich auch gleich daran machen, diese Rose aus Eis zu finden.

Jeanne runzelte die Stirn. »Draußen ist ein Gebäude, das ein Mausoleum sein könnte. Da würde ich zuerst nachschauen. Warum?«

»Auch eine lange Geschichte«, erklärte V. »Ich erzähle es dir später, wenn wir uns nicht durch den Raum hindurch anschreien müssen. Aber erst einmal schaue ich mir das Mausoleum an.«

»Alles klar. Ich bin hier, wenn du mich suchst. Und ...« Sie kramte in ihrer Tasche herum und holte eine Packung Zündhölzer heraus. »Du wirst das hier brauchen. Fang.«

Das Päckchen prallte gegen Vs Finger, aber blitzschnell schnappte sie erneut danach und bekam es vernünftig zu fassen.

»Danke«, rief sie Jeanne zu, ehe sie das Herrenhaus verließ, um das Mausoleum zu finden.

Lange musste sie nicht suchen, da sah sie schon ein steinernes Gebäude. Eine Säule lag zersplittert am Boden, die andere hielt das gesamte Gewicht des Daches und kämpfte gegen den Griff des Efeus an, der den Stein in seine Gewalt bringen wollte.

Die Ebenholztür war geöffnet und Kühle drang aus dem Inneren. In weißen Wolken hing Vs Atem in der Luft, doch als sie blinzelte, stellte es sich nur als Trick ihres Verstandes heraus. An den Wänden hingen rostige Halterungen ohne Fackeln. Kein Licht begleitete sie auf ihrem Weg die Treppe hinunter und in das Innere der Gruft. Erst als sie unten ankam und kaum mehr die Hand vor Augen sehen konnte, holte sie eines der Streichhölzer hervor und entzündete es.

Warmer Schein flackerte an den Wänden und ließ die Spinnenweben und den Staub, den V aufwirbelte, golden glänzen. Die Kälte aber lag weiterhin in ihrem Nacken.

The Tale of Greed and VirtueWo Geschichten leben. Entdecke jetzt