Blutbefleckte Federn

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Kastolat. Eine Stadt im hohen Norden, die seit langem nicht mehr in ihrer damaligen Blüte erstrahlte. Schon immer gab es Armut in den Straßen, schon immer verhungerten Menschen und Elfen in den Gassen, doch nun saß niemand mehr auf dem Thron, der den Anschein einer blühenden Handelsstadt aufrecht erhielt.

Nach dem Tod des letzten Herzogs hatten viele Adelige versucht, die Stadt zu unterjochen, aber sie hatte sich stets in den Zügeln aufgebäumt und jeden von ihrem Rücken geworfen. Niemals würde sie sich brechen lassen und einer anderen Herrin als der Armut dienen, nie einem anderen Herrn als dem Tod.

Die Tore waren für jeden verriegelt, der nicht die Erlaubnis des Herzogs erhalten hatte. Doch Kastolat fehlte dieser Herzog und anstatt die Stadt für jeden zu öffnen, verschloss man sie. Einige Adelige bemühten sich noch um Ordnung und ließen Händler ein, damit die Bevölkerung nicht verhungerte. So hielten sie die Stadt am Leben ... oder zögerten ihren Tod hinaus.

Für die Mutigen – oder die Lebensmüden – aber gab es einen anderen Weg, die Stadt zu betreten und zu verlassen. Katakomben unterwanderten Kastolat. Nur wenige besaßen eine Karte und keine dieser Karten bildete das Tunnelsystem in ihrer Gänze ab. Immer wieder stürzten Gänge ein und versperrten Wege oder begruben unglückliche Reisende.



In tiefster Nacht erreichten Jeanne und V die Mauern Kastolats.

Wenn sie die Diebin sah, klangen immer noch die Worte in ihrem Kopf nach, nachdem sie mitten in der Nacht geweckt worden war.

›Ich habe Mist gebaut‹, hatte Jeanne gesagt. ›Und ich muss so schnell wie möglich von hier verschwinden.‹

V hatte sie begleitet, auch wenn die Diebin der Idee nur zögerlich zugestimmt hatte. Im Laufe der Reise hatte sie erfahren, was geschehen war. Jeanne hatte den Raben bei der Flucht verholfen, hatte Ejahl verraten. Nach dem Warum hatte sie nicht fragen müssen.

Die Tore der Stadt standen offen, als sie sich näherten. Die Wachen blickten zwar beunruhigt nach draußen und musterten beide, als sie eintraten, aber sie hielten sie nicht auf.

Jeanne hatte ihr erzählt, weshalb sie eingelassen wurden. Sie hatte einen Kontakt, der die Stadt schon betreten hatte und die Toren von innen öffnen konnte. Ein kalter Schauer lief V über den Rücken, als sie daran dachte, wen sie dort wiedertreffen würde.

In einigen Metern Entfernung stand ein Mann. Ein langer schwarzer Mantel lag über seinen Schultern und auf den ersten Blick wirkte er unbewaffnet.

Neben ihm stand eine zierliche Gestalt in dunkler Lederrüstung. Die Kapuze hatte sie tief in ihr Gesicht gezogen, sodass es im Dunkeln lag, aber eine einzelne rote Strähne blieb dem silbernen Licht der Monde nicht verborgen.

»Es freut mich, dass Ihr die Stadt erreicht habt«, ergriff Niellen das Wort. V standen sämtliche Haare zu Berge, doch gleichzeitig zwang irgendetwas in ihr, sich in der honigweichen Stimme zu verlieren. Sie versuchte das Gefühl, abzuschütteln, aber ein schwacher Nachhall blieb.

»Lasst uns das Geschäftliche, nicht auf offener Straße besprechen«, sagte er.

»Ich werde Euch nicht in Euer Nest folgen.« Jeannes Miene war eisern.

Falls Niellen ihr Ton missfiel, war es seinen Zügen nicht anzumerken. Im Gegenteil, auf seinen Lippen zeigte sich ein Lächeln. »Das habe ich auch nicht von Euch erwartet. Ich habe ein Zimmer in der Nähe gemietet.« Er wandte sich ab und deutete ihnen mit einer Handbewegung an, ihm zu folgen.

The Tale of Greed and VirtueWhere stories live. Discover now