Kapitel 13

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Ich nähere mich vorsichtig der Luke in der noch eben so unnachgiebig steinharten Wand an. Ist das eine Halluzination? Beginne ich bereits jetzt, den Verstand zu verlieren? Mit einem Mal kommt es mir so vor, als sei mein Atem viel zu laut. Sicherlich wird jemand ihn hören und dieses Wunder, dieses einzigartige Geschenk des Schicksals in meinem Leben, mir entreißen. Das Loch öffnet sich auf einen weißen Gang hin, der nach einer kurzen, ebenen Strecke geradeaus sich nach oben wölbt. Langsam, mich jeder meiner Bewegungen bewusst, betrete ich den Gang. Meine Schritte hallen laut durch den engen Gang, mein Atem geht schnell und keuchend, jeder, der hier vorbeikommt, würde in der allerersten Sekunde bemerken, dass ich hier bin, und dennoch hindert mich niemand daran, weiter durch den Gang zu gehen. Soll das ein Scherz sein? Da unsichtbare Wesen, die vielleicht und vielleicht auch nicht das Schicksal kontrollieren, normalerweise nicht für ihren Humor bekannt sind, versuche ich so gut wie mir möglich, daran zu glauben, dass ich einmal in meinem ganzen dreckigen Leben Glück habe und gehe den Gang deutlich schneller entlang. Nach einer scheinbar endlich langen Zeit, die ich mit meinen Gedanken allein verbringe, erkenne ich das Ende des Ganges. Es sieht aus wie eine Art schwarzes Loch, und ich gehe davon aus, dass es eine Tür oder Ähnliches sein muss, von der kein Licht abstrahlt. Vorsichtig nähere ich mich ihr und betaste sie mit einer Hand. Sie ist rau und vermutlich aus Stein, denn sie ist sehr kalt und uneben. Meine Finger stoßen auf einen aus der Tür hervorstehenden Griff und ich drehe daran. Erstaunlicherweise öffnet sich die Tür tatsächlich. Bevor ich durch sie hindurch gehe, lasse ich alle Geräusche der Umgebung auf mich wirken. Wenn jetzt hinter dieser Tür jemand steht, war's das mit meinem tollen Plan (welcher, fragt mich ein mieser Teil meines Gehirns). Dann kann ich genauso gut in diesem Gang auf mein Ende durch Verdursten oder Verhungern warten. Oder direkt meine Pulsadern an der Tür aufreißen, das geht wenigstens schneller. Ich nehme kein einziges Geräusch war, was mich nur noch nervöser macht, schließlich hab ich keine Ahnung, wo ich nun bin. Mit langsamen, beinahe lautlosen Schritten überschreite ich die Schwelle der Tür und ducke mich sofort an die Wand. Mich überrollt eine Welle schrecklichen Schwindels, als ich den Gestank hier wahrnehme. Es riecht nach Blut und Schmerz. Nach Tod. Warum weiß ich das so genau? Ich habe hier unten endlose Abende verbracht, in denen ich irgendwelche halbwegs oder ganz unschuldige Wesen zu Tode gefoltert habe.
Erinnerungen an meine eigenen Schmerzen, die ich unter Renatae erlitten habe, erfüllen mich und reißen jegliche Konzentration fort. Wofür tue ich das hier eigentlich? Als ob ich jemals noch glücklich werden könnte. Ich bin ein kaputtes Wesen, ein Mörder, das Schreckensbild eines jeden Menschens. Niemand könnte mich je lieben.
Nein, das ist falsch. Denn irgendwo hier wartet Azriel auf den Tod. Azriel, mein Seelengefährte, den ich noch nicht einmal kenne und mit dem ich bereits geschlafen habe. Irgendwo hier foltern sie ihn solange, bis er sein Gedächtnis verliert. So wie ich es mit unzähligen Menschen und Engeln und anderen Wesen, deren Namen längst vergessen sind, getan habe. Mich schüttelt ein Würgreiz, als ich daran denke. Ich unterdrücke alles, den Würgreiz wie auch diese Gedanken und zwinge mich, auf unsicheren Beinen und mit zitterndem Körper einfach weiter zu gehen. Für Azriel.
Meine Schritte werden schneller und zielstrebiger, ich fühle, wie die Seelenverbindung mir den Weg zu Azriel weist. Mit jedem Schritt spüre ich mehr ein Gefühl von Panik, zu spät gekommen zu sein. Als ich schließlich eine Tür erreiche, hinter der die schmerzerfülltesten Schreie ertönen, die ich je gehört habe, ergreift mich eine Mischung aus Mut und Dummheit, mit deren Hilfe ich die Tür eintrete. Das Bild, das sich mir bietet, ist schrecklich.

Gerechtigkeit - Ein Leben für ein LebenWhere stories live. Discover now