Kapitel 6

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Die Dunkelheit lichtet sich langsam - und mit ihrem Verschwinden pocht der Schmerz unaufhaltsam durch meinen Rücken. Vorsichtig will ich mich mit den Händen hochdrücken, eine Übung, die mich an guten Tagen keinerlei Energie kostet und die jetzt ein Ding der Unmöglichkeit zu sein scheint. Kraftlos lasse ich mich zurück auf den Boden fallen, und schon kreischt der Schmerz wieder auf. Mit größtmöglicher Vorsicht drehe ich den Kopf, um zu sehen, von wo der Schmerz kommt - und werde bei dem Anblick meines Rückens beinahe wieder ohnmächtig. Dort, wo einst meine aschgrauen Schwingen ihn zierten, klaffen jetzt zwei riesige, blutüberkrustete Löcher, aus denen abgerundete, unebene Stümpfe herausragen. Schnell drehe ich den Kopf weg und atme. Und atme. Und atme. Langsam vergeht der Schwindel und ich sinke erschöpft auf den Boden zurück. Erst jetzt bin ich einigermaßen in der Lage, meine Umgebung wahrzunehmen. Ich bin eindeutig nicht in einem Lazarett oder Ähnlichem, auch wenn dies für meinen Rücken definitiv zu empfehlen wäre. Stattdessen befinde ich mich in einem kastenartig gebauten Raum mit dunklen, staubigen Wänden. An der Wand links neben mir ist eine Art Halterung befestigt. Ich habe den Raum noch nie gesehen und auch keine Ahnung, was ich hier tun soll beziehungsweise weshalb ich eigentlich hier bin. Als ich den Kopf auf die andere Seite drehe, sehe ich, dass ich nicht allein bin. Ein Mann, nur leicht älter als ich, vielleicht 27, sitzt an eine Wand gelehnt da. Er hat dunkle Haare und schockierend grüne Augen. Seine Haut ist leicht gebräunt, als habe er viel Zeit an der Sonne verbracht. Allerdings ist sie von einer kränklichem Blesse überzogen, die seine Haut fast gelblich wirken lässt. Sein herzförmiges Gesicht sieht angespannt aus, ohne verkniffen zu wirken. Seine Augen werden von wunderschönen, dichten Wimpern gesäumt und werden von oben durch dunkelbraune, schmale Augenbrauen umrahmt. Sein Blick wirkt wachsam, was sich in diesem Moment bestätigt, da sein Blick den meinen einfängt und er mich anspricht: "Du bist aufgewacht. Was hast du getan, um so zu enden?" Seine dunkle, wohltönend leicht raue Stimme erfreut meine Ohren so sehr, dass ich einen Moment brauche, bis ich realisiere, dass er mich etwas gefragt hat. Hastig krächze ich mit meiner kaputt geschrieenen Stimme: "Äh, ja. Ich-" Unsicher, ob wir beobachten und belauscht werden, breche ich ab und sage stattdessen nur: "Ich habe etwas getan, was dem Erzengel missfallen hat. Wer bist du überhaupt? Ich dachte, ich würde jeden kennen, der hier - wo sind wir eigentlich? - aus und ein geht". Der Fremde lacht leise. "Du kannst mir die Wahrheit sagen. Ich bin hier schon sehr lange, und ich kann dir sagen; der Erzengel macht sich nicht die Mühe, diesen Ort zu überwachen. Dafür sind wir ihm nicht wertvoll genug. Mein Name ist Azriel. Und wir sind in einem Bunker unter dem See neben der Kaserne". Auffordernd blickt er mich mit einer Intensität an, die mir Schauer über den Rücken laufen lässt. "Du kannst mir vertrauen. Ich habe kein Interesse daran, dem Erzengel in irgendeiner Form zu helfen". "Du hast mir nicht einmal deinen Familiennamen verraten, und erwartest von mir, dass ich meine Geschichte dir zu Füßen lege? Träum weiter", stelle ich herablassend klar. Es kostet mich einige Mühe, so verächtlich zu wirken, wenn ich mich von diesem völlig fremden Mann irrsinniger Weise so angezogen fühle. So etwas ist mir noch nie passiert. Was hat der Typ an sich, was diese Reaktion in mir auslößt?! Ich entscheide mich, es für den Moment auf die derzeitigen Umstände zu schieben - Flügel ab, halb tot und so. Azriel sagt leise: "Man hat dich traumatisiert, bis du niemandem mehr vertrauen kannst. Ich verstehe das. Aber verstehe mich, wenn ich dir Folgendes sage: Du. Kannst. Mir. Vertrauen. Egal, was dir geschehen ist, das, was man mir angetan hat, ist schlimmer. Also vertrau mir". Überrascht von dieser flammenden Rede starre ich Azriel nur an. Dann setzt mein Instinkt ein und dieser schreit wütend: wie kann er es wagen, sich das anzumaßen?! Er hat keinerlei Ahnung, was ich durchgemacht habe - und was immer er durchgemacht hat, die Qualen, die ich erlitten habe, geben mir eindeutig das Recht, ihm das alles zu verschweigen. Ich habe bereits die Erfahrung gemacht, dass Vertrauen in Menschen nur zur Schmerz führt. Denselben Fehler wie bei Halya werde ich nicht noch einmal machen, auf keinen Fall. Jeder, dem ich mich anvertraueq, wird deswegen ermordet oder gefoltert oder gequält oder mir entrissen. Meine Eltern, meine erste und einzige Liebe und jeder andere, der mir je etwas bedeutet hat. Zitternd vor Wut angesichts der Anmaßung des fremden Mannes sage ich: "Woher willst du das wissen? Als ob ich einfach so alle meine Geheimnisse herausschreien würde, nur weil ein attraktiver Kerl mich dazu auffordert!" Scheiße, hatte ich das gerade wirklich gesagt? Das wollte ich einfach nur denken, er braucht nicht zu wissen, dass ich ihn attraktiv finde. Ein Grinsen erhellt sein Gesicht und transformiert es zu einer fast engelsgleichen Schönheit. "Attraktiver Kerl? Ich glaube, mir wurde noch nie ein solches Kompliment gemacht". Schnaubend, allerdings nur mit Mühe beherrscht drehe ich den Kopf zur Seite und verfluche mich innerlich für meine Unbeherrschtheit. "Auch wenn es so ist, gibt dir das noch lange kein Anrecht auf meine Gedanken und Geheimnisse oder meine Geschichte". Ich höre, wie Azriel wieder lacht. Dieser Typ treibt mich in den Wahnsinn mit seiner unglaublich anziehenden Art. Was ist nur falsch mit mir?! Bemüht, all diese Gefühle zu verstecken und an einem dunklen, lichtlosen Ort in mir zu vergraben, in der Hoffnung, dass sie Licht zum Leben brauchen, antworte ich ihm: "Ich stehe seit einiger Zeit im Dienst des Engels. Ich habe - die falsche Person ermordet, genauer gesagt die Harpye statt einer unschuldigen Bürgerin der Stadt über uns. Jetzt zufrieden?". "Das ist Mist. Aber nein, ich bin noch nicht zufrieden". "Was willst du denn noch von mir?", frage ich genervt. Seine Antwort besteht darin, wieder leise zu lachen. "Du bist wie eine fauchende Wildkatze, weißt du das eigentlich?". Erstaunt ringe ich mir etwas Unverfängliches ab, das zweifelsohne als Falsifizierung seiner Behauptung zu klassifizieren ist. Anschließend sage ich jedoch: "Jetzt kennst du meine Geschichte. Ich will deine kennenlernen". "Eine Geschichte für eine Geschichte, oder wie?". "Exakt", sage ich nun auch lächelnd und drehe mich wieder zu ihm hin. Ein leicht entrückter Ausdruck legt sich über seine Züge, als er zu erzählen beginnt. "Ich habe lange als einfacher Bürger von Seven Moons gelebt. Ich war ein normaler Mensch - bis ich unsterblich wurde. Ich habe den Sprung absolviert und er hätte mich beinahe getötet, doch nicht auf die Art, wie du denkst. Ich hatte genug Kraft, um den Sprung zu überleben, doch ich hatte die Rechnung ohne die Erzengel gemacht. Und dann habe ich etwas erschütterndes über sie herausgefunden, etwas, was mich dazu veranlasst hätte, es der ganzen Welt zu erzählen und eine Massenrevolution zu provizieren. Doch dann haben die Erzengel bemerkt, dass ich ihr großes Geheimnis wusste und so bin ich hier gelandet. Seit nun über 7 Jahren sitze ich hier unten und werde jeden Tag in die Folterkammern geschleppt, damit diese Erinnerung aus meinem Gedächtnis entschwindet. Seit sieben Jahren trage ich dieses Wissen mit mir herum, in der Sicherheit, dass, wenn ich sterbe, es niemand mehr wissen wird und alles immer so weiter gehen wird. Ich habe herausgefunden, wie die Herkunft der Erzengel wirklich aussieht - und wie sie hier überleben".

Gerechtigkeit - Ein Leben für ein LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt