Kapitel 2

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"Ich will einen Handel mit dir abschließen. Ich befreie dich aus dieser Zelle und du lebst fortan in meinem Palast. Im Tausch wirst du für mich jeden einzelnen Mord der Gefallenen Armee in jenem verhängnisvollen Krieg begleichen. Jedes Leben, was deine Legion ausgelöscht, ausgeliefert oder anderweitig zum Untergang gebracht hat, wirst du für mich an einem von mir ausgewählten Ziel begleichen. Wenn du jedes dieser Leben auf die eine oder andere Weise ausgelöscht hast, ist es dir überlassen, ob du mir weiterhin dienen willst oder an einen anderen Besitzer meiner Wahl verkauft wirst". Keuchend blicke ich Micah an. Was bei allen zwölf Höllenfürsten?! "Nein, danke, aber ich verzichte darauf, für Euch Unschuldige ins Jenseits zu befördern". Schnaubend wende ich mich ab. Wie kam dieser Typ auf die Idee, dass ich sein Angebot annehmen würde? Wenn er bereit war, hierher zu reisen und alle Anstrengungen zu unternehmen, um mich zu rekrutieren, wird er wohl eine Absicherung gegen meine Entscheidung haben. Niemals wird er sich darauf verlassen haben, dass ich zustimme. So funktioniert Micah, der grausame, bestialische, brutale Micah Sun nicht. Was also wird er nun tun? Ich werde es vermutlich herausfinden, denn in diesem Moment spricht er: "Ich glaube, du hast mich missverstanden. Dies ist kein Handel. Es ist ein Befehl, und solltest du ihm nicht Folge leisten, kenne ich Mittel und Wege, dich dazu zu überreden. Ich werde mich deutlich genug ausdrücken: ich verschwende keine Zeit mit Nettigkeiten. Also tu, was ich dir sage, oder spüre die Konsequenzen". Herausfordernd und dennoch gelangweilt blickt er mich an. Verächtlich, rasend vor Wut starre ich zurück. "Habt Ihr etwa vergessen, was ich mit Eurer letzten Geliebten getan habe? Ich habe ihr die Kehle durchgeschnitten und ihre zerstückelte Leiche ins Feuer geworfen! Ihre Asche wurde in alle Winde zerstreut und liegt mittlerweile in einem Müllcontainer - dort, wo sie hingehört! Als ob Ihr mich dazu bringen könntet, das zu tun, was Ihr verlangt!" Seine seelenlosen Augen flackern wild auf. "Das", knurrt er leise und bedrohlich,"hört sich nach dem perfekten Schicksal für - wie hieß sie noch gleich - Halya an". Absolut lächerlich. "Ich weiß, dass die Hindin sie getötet hat", sage ich mit möglichst ruhiger Stimme. Trotzdem zittere ich, als die Erinnerung mich überfällt. Micah lächelt, ohne dass seine Augen davon effektiert werden. Er gibt einer Wache am anderen Ende des Raumes einen Wink und diese verschwindet. Immer noch lächelt er leicht. Eine zarte Hoffnung keimt in mir auf, eine Ausgeburt meiner Verwirrung. Was wäre, wenn _sie_ noch lebt? Das ist unmöglich, ich habe gesehen, wie ihr Blut in alle Richtungen gespritzt und ihre Leiche schlaff zu Boden gefallen ist. Plötzlich tritt die Wache wieder ein. Sie wird begleitet von zwei anderen Wachen, die in ihrer Mitte eine hochgewachsene Gestalt begleiten. Kann es sein? Die Prozession kommt näher und näher, bis ich jedes Gesicht einzeln erkennen kann. Doch ich habe nur Augen für eines. "Halya", keuche ich. "HALYA!" Voller Freude renne ich auf sie zu, will sie umarmen, will mich dieses Wunders überzeugen. Doch da versperrt mir Micah den Weg. Ungeduldig will ich um ihn herum gehen, will die Panik in Halyas Augen beruhigen, doch er lacht nur gehässig und zieht sein Schwert. Er raunt: "Eine Bewegung auf sie zu, und ihr Arm kommt dir entgegen geflogen". Schlagartig halte ich inne und werde so reglos wie nur möglich, während meine Gedanken völlig außer Kontrolle kreiseln und rasen. So abgelenkt bin ich durch sie, dass mir entgeht, wie eine Wache von hinten auf mich zukommt - und mich einen Schritt nach vorne stößt. Ein gellender Schrei löst sich von meinen Lippen, doch es ist zu spät. Mit einem Glitzern in den Augen höhnt Micah: "Ich sagte dir, keine Bewegung". Ich verharre an Ort und Stelle, in tiefste Angst versetzt, bis dessen Schwert herunterfährt - und Halyas Arm abtrennt.

Ein lautloser Schrei entweicht meiner Kehle, bevor ich gänzlich in mich zusammensinke. Eine Stimme wird von mir vernommen, was mich erstaunt - ich hätte gedacht, die Leere in mir, um mich verschluckt alle Geräusche: "Ich denke, du siehst, welche Überredungskünste mir zur Verfügung stehen. Widersetzt du dich mir, wird ihr Kopf meine Trophäe sein. Also entscheide dich, oder wir zerstückeln sie sofort!" Zitternd sitze ich auf dem Boden, wie ein kleines Kind auf der Suche nach Schutz. Dem Schutz, den auch Halya braucht - und den ich ihr nur geben kann, wenn ich mich Micah anschließe. Ein Pakt mit Micah gleicht einem Pakt mit dem Teufel, und doch habe ich keine andere Wahl. Für Halya, denke ich. Innerlich versuche ich mich davon zu überzeugen, dass ich es tun muss, tun _werde_, und dennoch hält mich die beträchtliche Menge, die ich an Instinkten besitze, davon ab, mich in eine solche Gefangenschaft zu verkaufen. Ich weiß nicht einmal, wie viele Morde ich begleichen muss, wie viele Wesen an diesem Tag von uns ausgelöscht worden sind. Menschen, Fae, sogar einen der Erzengel haben wir ermordet. Bevor ich noch länger über mein nahendes Schicksal nachdenken kann, gehe ich einen Schritt zurück und blicke Micah direkt in die Augen. Das triumphierende Feuer, welches darin lodert, bringt mich beinahe dazu, mich auf ihn zu stürzen und ihn mit bloßen Händen auseinanderzureißen, bevor ich mich eines besseren besinnen kann - dies vor mir ist Micah Sun, mit einem Atemzug in der Lage, Hunderte der besten Kämpfer Midgards zu Staub zu zermalmen. Welche Chance habe dann _ich_? Etwas in mir zerbricht, als ich mich gezwungen sehe, dem Befehl nachzukommen: "Ich werde Euch dienen, bis ich jeden Mord beglichen habe. Hierfür lasst Halya leben".

Von meinem unheiligen Schwur völlig umgehauen, sitze ich keuchend auf dem Boden, unfähig, mich aufzurichten. Der Boden, den ich anblicke, ist staubig, verdreckt und aufgesprungen. Genau wie ich. Eine Seele, die es nicht wert war, dass man sie als Seele bezeichnete. Und alle im Raum anwesenden wissen dies - und verhalten sich auch so. Mit Ausnahme von Halya. Meiner schönen, starken, unbeugsamen Halya. Doch die ist bewusstlos geworden, bewusstlos durch den Blutverlust und den Schmerz. Niemand wird mir je helfen, so lange nicht, bis ich endgültig zu Boden gehe. Niemand wird mir je helfen - also helfe ich mir selbst. Brennende Entschlossenheit bahnt sich ihren Weg durch meine Adern und zwingt mich, aufzustehen und Micah voller Hass anzustarren. Ohne zu blinzeln blicke ich ihn an und lege in meinen Blick die Morddrohung, die ich empfinde. Gelangweilt blickt er zurück und dreht sich schließlich weg, als sei ich es nicht wert, dass er sich mit mir befasst. Nun ja, er wird genau sehen, was er davon hat. Er wird am ganzen Körper spüren, wozu ich fähig bin, und er wird um den Tod betteln, bevor ich ihm diese Erleichterung gönne. Mit diesem Gedanken, mit diesem Antrieb einzig und allein durch Rache, gehe ich auf ihn zu und sage mit völlig tonloser Stimme: "Wie viele?" Lächelnd brennt er seinem Blick in meinen, bevor er sich dazu herablässt, zu antworten: "Zweitausendfünfhundertundzwölf". Schock reißt mich aus meiner schwer bewahrten Fassung. Über 2500 Leben.

Gerechtigkeit - Ein Leben für ein LebenWhere stories live. Discover now