Fünf Jahre Später - Kapitel 3

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Ich stehe an einem Scheideweg. Um mich herum liegen noch schwelende Kadaver, auseinandergerissen durch meine bisherigen Entscheidungen. Doch eine ist übrig. Ein junges Mädchen, völlig unschuldig. Verängstigt presst sie sich an das Bein ihrer Mutter, die mich anstarrt. Sie hat mich erkannt. "Umbra Mortis", flüstert sie. Das kleine Mädchen beginnt zu zittern, voller Angst. Auch sie wird wissen, wer ich bin. Ihre Eltern haben ihr vermutlich mit mir gedroht, wenn sie unartig war, und ihr Gute-Nacht-Geschichten erzählt, in denen mein Tod eine große Rolle spielt. Der böse Todesschatten, der von einer schönen Prinzessin getötet wird. Ich wünschte, diese Geschichten seien wahr. Die Mutter, eine attraktiv und elegant gekleidete Bürgerin von Seven Moons, beugt sich hinab und flüstert ihrer Tochter zu: "Alles wird gut. Schließe die Augen zu, und du schläfst ein. Wachst auf in einem anderen Land, frei und sicher. Schließ die Augen, und du wachst auf, sicher und behütet, wohlauf und frei". Die Worte zerbrechen mir das Herz. An ebendiese Worte erinnere ich mich nur zu gut. Wenn Halya nach einer langen Schlacht nicht schlafen konnte und sich nachts nach Mittnacht im Bett herumgeworfen hat, haben wir sie gemeinsam gesagt, um unsere Geister zu beruhigen. Ich kann nicht zulassen, dass eine weitere Familie so zerstört wird wie die meine. Nicht durch mich, nicht durch Micah und durch nichts und niemanden sonst. Mit brüchiger Stimme krächze ich halb weinend: "Flieht. So schnell ihr könnt. Flieht nach Avaria, irgendwo hin, wo die Erzengel keinen Einfluss haben. LOS!" Die Mutter blickt mich verstört an. "W-was?" Auch das kleine Mädchen sieht staunend zu mir hoch. "Mama, sie hat gesagt, wir sollen fliehen! Mama, komm, los, schnell!" Dankbar für die Schlauheit der Kleinen drehe auch ich mich um und stoße mich vom Boden ab, nur um von einem Zug an meinem Flügel auf den Boden zurück befördert zu werden. Ich drehe mich um die eigene Achse und schaue plötzlich in das triumphierend herablassende Grinsen der Harpye. Eine weitere von Micahs Untergebenen, eine des höchsten Rangs, dem auch ich angehöre - die Trieriar. Ein Wort, welches in der alten Sprache eines längst untergegangenen Landes, dem die Erzengel mutmaßlich und nach eigener Angabe entstammen, Vollstrecker bedeutet. "Das war aber nicht dein Auftrag", säuselt sie herablassend. "Das sollte ich Micah weiterleiten, ja, das sollte ich". Schock durchzuckt meine Adern wie ein Blitzgewitter. Scheiße. Verdammte Scheiße, sie hat meinen Akt der Gnade mitbekommen! Mir bleibt nur eine Wahl. Ich weiß, dass, egal wie gut ich es abstreite, Mica mich bestrafen wird. Er wird der Harpye glauben, niemals mir. Der Folter, die auf so einen Ungehorsam steht, werde auch ich nicht widerstehen können. Also muss ich die Harpye ausschalten.

Möglichst verwirrt blicke ich sie an, versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Gerade in dem Moment, in dem sie ihren Blick leicht senkt, stürze ich mich auf sie. Mein Dolch gleitet wie geschmiert aus seinem Schaft und gräbt sich ebenso geschmeidig in den Hals der Harpye. Mir meines Sieges sicher nehme ich mir die Zeit, ihr ins Ohr zu flüstern: "Sei froh, dass ich nicht viel Zeit habe. Sei froh, dass du auf diese Weise stirbst - denn hätte ich Zeit, würdest du mich anbetteln, sterben zu dürfen, bevor ich dich ins Jenseits schicke". Selbstzufrieden und dennoch auf der Hut entfernen ich den Dolch aus ihrem leblosen Körper und sehe ein letztes Mal in ihre Augen. Schockiert und hasserfüllt starren diese zurück. Ich wende mich ab, verstört von mir selbst. Wie ist es geschehen, dass ich so leichtfertig und ohne jegliche moralische Mühe zu Mord greife?! Würgend stolpere ich weiter, bis ich in der Sonne am Ende der Gasse stehe. Ihre Strahlen erfüllen mich mit einem heiligen Licht, dessen ich nicht würdig bin. Sie lassen den Dornenkranz um meinen Kopf glänzen und vertreiben die Schatten, in denen ich zuhause bin. Ich breche zusammen, unfähig, die Gedanken abzuschütteln - unwürdig, unwürdig, unwürdig. Sie tanzen durch meinen Kopf, ihre schmerzhaft wahre Melodie gleicht einem Trommelschlag, der mich mit jeder verstreichenden Sekunde hoffnungsloser werden lässt. Ich habe die Harpye ermordet, im Tausch für mein Leben. Mein Handel mit Hunt wird zu meiner Lebensweise. Ihr Leben für mein Leben. Ein Leben für ein Leben.

Gerechtigkeit - Ein Leben für ein LebenOnde histórias criam vida. Descubra agora