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Als Gwendolyn erwachte war sie glücklich... es war warm, ihr Körper schmerzte nicht und ein angenehmer Nebel dämpfte jeden Gedanken... Ja, sie war glücklich... bis der Nebel zerriß und die Erinnerungen einem Sturmwind gleich durch ihren Geist tobten.
Das gebrochene Bein, die Vergewaltigung...

Jared...

Jared...

JARED!

Gwen krümmte sich zusammen, stopfte sich das Kissen in den Mund und schrie.
Schrie aus voller Kehle... bis sie heiser war und die Schreie in hemmungsloses Schluchzen übergingen.
Große Hände zogen sie an eine warme, breite Brust und dann umschlossen sie die muskelbepackten Arme Tjorbens fest und schenken ihr den sicheren Zufluchtsort, den sie so verzweifelt brauchte. Zärtlich wiegte er sie hin und her, streichelte ihren Rücken und schnurrte dabei sanft. Das beruhigende Vibrieren des Alphaschnurrens rollte durch die Zellen ihres geschundenen Körpers und schenkten ihr die bitter benötigte Ruhe.
„Jared..." wimmerte die junge Frau und vergrub sich noch tiefer in den Armen ihres Tjorbens.
„Ich weiß, mein süßes Kätzchen. Ich weiß... Er wurde uns allen genommen... aber er starb, um dein Leben und das unseres Babys zu bewahren. Das darfst du niemals vergessen, Liebling! Wir alle würden unser Leben geben, damit du... damit ihr sicher seid. Ohne zu zögern.... Immer. Jared hat dich mehr als sein eigenes Leben geliebt und auch, wenn ihm nur kurze Zeit mit dir geschenkt wurde, so hat er niemals auch nur eine Sekunde davon bereut."
Gwen weinte so sehr, dass ihr ganzer Körper schlotterte und ihre Antwort war kaum zu verstehen: „Ich .. konnte ihm ... nicht mal sagen, dass... ich ... ihn auch geliebt habe..."

„Er wusste es doch, meine süßes Mädchen!" sagte eine tiefe, warme Stimme und Henry trat an das Bett. Gwen drehte sich zu den Clansführer um und streckte mit tränennassen Gesicht kläglich ihre Arme nach ihm aus. Ohne Zögern hob der junge König sie hoch und ging mit seinem Herzen eng an sich gedrückt mit langsamen Schritten durch den Raum. Genau wie der Vollstrecker schnurrte er liebevoll und flüsterte dabei Zärtlichkeiten und beruhigende Worte in ihr Ohr.
Langsam tauchte Gwendolyn aus dem Meer der Trauer wieder auf und flüsterte: „Wo ist Jared? Habt ihr ihn schon eingeäschert?"
Tjorben stand aus dem Bett auf und trat zu Henry. Seine Hand glitt in ihre Feuerlocken und massierte sachte ihre Kopfhaut.
„Ja, Kätzchen.. Es würde dir nur noch mehr weh tun, wenn du seinen Leichnam sehen müsstest. Die Urne werden wir an dem Platz begraben, wo du sie haben möchtest. Dann kannst du immer wieder zu ihm..."
Die Epsilon wandte ihren Blick und sah den blonden Riesen an, dann nickte sie langsam. „Können wir ihn bei meiner Mama beerdigen? Auf dem Feld der Schmetterlinge?"
Henry küsste sie sanft auf die bebenden Lippen und lehnte dann seine Stirn an die ihre.
„Alles was du möchtest, Gwendolyn." wisperte er und hauchte einen weiteren Kuss auf ihre Augenlider.
Tjorben öffnete derweil die Zimmertür und gemeinsam schritten die beiden Männer, Gwen immer noch sicher in den Armen des Königs durch den langen Korridor. Ein blonder riesiger Mann schloss sich ihnen an und Gwen starrte ihn über die Schulter ihres Clanführers an... er kam ihr bekannt vor!
Woher nur kannte sie dies...
Die Erinnerung brach wellenartig herein und die junge Frau schrie auf: „Henry... pass auf! Da... Böser Mensch!"
Beide Alphas wirbelte zeitgleich herum, halb in den Knien gebeugt um einen Angriff abzuwehren, während Henry zusätzlich seinen Körper verdrehte um ihn als Schutzschild für seine geliebte Epsilon zu nutzen.
Ihre Abwehrhaltung dauerte allerdings nur einen Herzschlag, bis sie begriffen, wen Gwen gemeint hatte und dann lachte Tjorben leise.
„Ach, Kätzchen... das ist kein Attentäter, oder ein böser Mensch. Das ist mein Bruder Darren..."
Die Männer setzten sich wieder in Bewegung - Darren wurde dabei aufmerksam und höchst misstrauisch von Gwen beobachtet - und schließlich betraten sie ein riesiges Wohnzimmer.
„Gwen!!"
Augenblicklich waren die restlichen Alphas ihres Zirkels um sie, berührten die junge Frau, streichelten sie, vergewisserten sich, dass ihr Herz wieder unter ihnen war.
Maximilian nahm sie ohne weiteren Kommentar aus Hernys sicherer Umarmung und trug sie zu den Sofas. Dort setzte er sich mit ihr hin und betrachtete die Epsilon. Sanft streichelten seine Finger über ihre Wange, glitten über die schlanke Säule ihres Halses und verschränkten sich in ihrem Nacken um die junge Frau zu einem unendlich zärtlichen Kuss heranzuziehen.
Dann strich er mit geschlossenen Augen mit der Nasenspitze über ihre und berührte vorsichtig den eingeschienten Unterschenkel.
„Hast du Schmerzen, kleiner Kobold?" fragte er leise und sofort schossen wieder Tränen in ihre Augen.
Max sah dies und seufzte leise.
„Ach, Gwendolyn... Er ist nicht verloren... solange wir uns an Jared erinnern, wird ein Teil von ihm immer bei uns sein. Lass nicht zu, dass dein Kummer dich begräbt. Sei stark für uns, für ihn und für unser Baby... Für unseren kleinen Jungen..."
Gwendolyn zuckte zusammen und legte die Hand auf.. eine kleine Wölbung... an ihrem Bauch...?!!!
„Was...? Wie...? Wie... lange hab ich geschlafen?" keuchte sie fassungslos und Kai antwortete leise: „Sechs Wochen... eine Zeit lang dachten wir... befürchteten wir..."
Der Tracker wandte sich ab und stand mit gebeugten Schultern da, leichte Schauer liefen durch seinen Körper.
Gwendolyn war wie vor den Kopf gestoßen.

Sechs Wochen.. 
SECHS WOCHEN?!!
Kein Wunder, dass sie kaum noch Schmerzen hatte!! Oder dass ihr Bein nur noch in einer Schiene steckte und nicht mehr in Gips! 
Ihr Blick wanderte entgeistert über die Alphas im Raum und riss sich zusammen, als sie den Kummer spürte, den Kais ganzes Wesen ausstrahlte.
Wimmernd streckte sie die Arme nach ihrem Tracker aus und Max erbarmte sich. Als sich die Epsilon an dem Mann festkrallte um seinen Schmerz zu lindern, hatte sie für einige Sekunden das Gefühl, dass sie zu einem Wanderpokal mutiert war. Doch der Duft von Gewürzen und frischer Luft, der so ganz Kai war, brachte sie aus ihren eindeutig hysterischen Verstand wieder zurück zu ihrem Alpha.
Und unter ihrer Zuwendung schaffte der Tracker es schließlich, die lähmende Furcht zu überwinden, die ihn befallen hatte seit Gwen im Koma gelegen hatte.
Reihum musste jeder ihres Clans sich vergewissern, dass ihre Kleine wieder bei ihnen war, dass es ihr gut ging... musste sie streicheln, küssen und berühren und ihrer aller Schnurren ließ die Luft im Raum zittern...
Schlussendlich saß die junge Frau auf Tjorbens Schoß, den Rücken an seine breite Brust gekuschelt, musterte intensiv den neuen Alpha - Darren - und versuchte sich zu entscheiden.

Zwischen den jeweiligen Wechsel der Umarmungen hatte sie verzagt ein paar Schritte versucht und wusste, dass die Mutter der Muskelkater morgen auf sie zukommen würde, also summte sie zufrieden, als Jay sanft begann, ihre Beinmuskeln zu massieren. Tjorbens tiefe Stimme erzählte derweil hinter ihr, wie sie mit Hilfe seines Bruders - von dem sie alle angenommen hatten, dass er tot gewesen war - der ersten Falle von Henrys Vater entkommen konnten.... Darren hatte den Wachtrupp, der die beiden hereinschleichenden Clans mit einem Hochenergie-Netz hatte ausschalten sollen kurzerhand im selbigen eingewickelt und die verschmorten Leichen dann im Abfluss des Weinkellers entsorgt. Von da an war es ein Kinderspiel gewesen, beide Zirkel in die drei Gänge aufzuteilen und sie in Position zu bringen. Gwens Gefangennahme war zu einem Problem geworden, da die Alphas bei Kenntnisnahme fast durchgedreht waren. Darren hatte sie mit Mühe und Not wieder in Reihe gebracht und war losgestürmt um aufzupassen, dass Gwen nicht geschah bevor nicht alle in ihren Ausgangsposition waren um zu zuschlagen.
Langsam dämmerte Gwen, dass ihre Männer -  und auch sie und ihr Baby - ohne Tjorbens Bruder nun nicht mehr leben würden, also löste sie sich zögernd aus den Armen ihres Vollstreckers und wankte zu dessen Bruder hinüber..
Darren sah die junge Frau hoffnungsvoll aus seinen smaragdgrünen Augen an und Gwendolyn erwiderte seinen Blick... sah tief in seine Seele und schnupperte in seine Richtung.

Hmmm... er roch... gut...
Nach Regen im Wald und nach Feuern, die in der Ferne brannten...
Zögernd kletterte Gwendolyn auf das Sofa neben ihn und von da auf seinen Schoß. Nun konnte sie ihn genauer betrachten. Er sah Tjorben sehr ähnlich. Fast identische Gesichtszüge, allerdings trug er keinen Vollbart wie ihr Vollstrecker, sondern hatte nur einen fünf Uhr Schatten, der von einer silbrigen Narbe am Kinn durchbrochen wurde. Die Narbe streckte sich über seinen starken Hals bis zur rechten Schulter hin.
Ja, Gwen konnte durchaus verstehen, warum ihre Alphas Darren für tot gehalten hatten. Langsam zeichnete sie mit den Fingern über die feine Erhebung, die sich hell von der gebräunten Haut abhob. Dann sah sie wieder in seine Augen.
Darin lag eine tiefe Sehnsucht... nach Familie, nach Liebe... nach... ihr...
Nein... Er war nicht Jared...
Aber vielleicht gehörte er dennoch auch zu ihr...

In einem Feld voller Schmetterlinge Where stories live. Discover now