Kapitel 12

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Die Kutsche kam sanft zum Halten, bevor Elanthin von draußen das Knarzen von Holz und einen gedämpften Aufprall hören konnte. Einer der Bediensteten musste von dem Kutschbock gesprungen sein, um ihnen die Tür zu öffnen. Aetrian warf ihr einen Seitenblick zu und sie nickte, also hob er eine Hand an die Kutschentür. Nachdem er zweimal geklopft hatte, bot sich ihnen der freie Blick auf den Hauptplatz an.

Unzeremoniell sprang Aetrian vom Trittbrett ins grelle Sonnenlicht und hob eine Hand zum Gruß. Sein silbrig-blondes Haar glänzte dabei in der Sonne.

Die Menge begrüßte ihn mit lebhaften Zurufen und Schreien, aber Elanthin konnte nur die gratianischen Worte für Majestät, Willkommen und König Aetrian mit Sicherheit im Chaos der sich vermengenden Stimmen ausmachen. Sie hielt derweil in der Türöffnung der Kutsche für einen Moment inne, weil sie die Sorge überkam, dass die begeisterten Rufe im Moment ihres Erscheinens zu eisiger Stille werden würden.

Aetrian wartete unterdessen geduldig am Boden. Seine Aufmerksamkeit war zwischen der Menge vor ihm und der Kutsche geteilt, die er eben verlassen hatte.

Als ihre Augen sich trafen, streckte er in stummer Aufforderung eine Hand aus.

Elanthin erlaubte sich noch eine kostbare letzte Sekunde des Zögerns, bevor sie danach griff. Dann stürmte sie vorwärts als wäre der Hauptplatz ein kalter See, den sie lieber auf einmal als nach und nach betreten würde – doch zu ihrer Überraschung blieb das Brennen des Eiswassers aus. Stattdessen brach die Menge in Rufe aus, die sich nicht groß von denen unterschieden, die Aetrian galten.

Sie sind nicht feindselig, nur aufgeregt, erkannte Elanthin mit Verwunderung. Sie hatte mit vielem gerechnet – vor allem nachdem sie die Tugend erblickt hatte – aber die positive Atmosphäre überwältigte sie. Es kam ihr beinahe vor, als wäre sie für die Leute nur eine beliebige Adelige. Liegt es daran, dass ich wie der gratianische König gekleidet bin? Dass ich mich wie er verhalte? 

Wenn das der einzige Grund für die Akzeptanz der Leute war, dann würde daraus ein Problem entstehen. Denn die gewöhnlichen Veritaner könnten die Rolle der gratianischen Bürger nicht so überzeugend spielen wie sie es nach einer Woche im Palast konnte.

Als hätte er ihr neuerliches Zögern gespürt, platzierte Aetrian ihre Hand auf seinem Unterarm, um sie zu eskortieren. Erst in diesem Moment bemerkte Elanthin, dass er sie nach ihrem Abstieg nicht losgelassen hatte.

Seine Stimme war leise, aber Aetrian hatte sich zu ihr gebeugt, damit sie ihn trotz des Tumults verstehen konnte. Die Augen der Zuschauer hielten ihn nicht davon ab, die Distanz zwischen ihnen zu verkleinern.

„Es gibt keinen Grund, sie mit Blicken zu töten. Es ist alles vorbereitet. Du musst nur auf diese Plattform steigen und charmant sein."

„Ich mache mir keine Sorgen um die Rede", zischte sie zurück.

Die Kutsche verschwand in einer Seitengasse, während die beiden ihren Weg zu der Plattform begannen, die ein oder zwei Meter über dem Hauptplatz aufragte. Es handelte sich um einen strahlend weißen Marmorkreis, der von einem mit Blumen und goldenen Ranken geschmückten Halbmond an Säulen eingekesselt wurde.

Trotz ihrer altertümlichen Eleganz löste die Plattform keine Nervosität in Elanthin aus, sondern ein seltsames Gefühl von Sicherheit. Sie mochte Gratia oder die Einstellungen dieser Leute nicht kennen, aber sie wusste, wie man zu einer Menge sprach. Immerhin waren solche Auftritte fester Bestandteil ihres Lebens gewesen, seit sie aufrecht gehen konnte.

Aetrian warf ihr einen berechnenden Seitenblick zu. „Also machst du dir Sorgen wegen der Leute?"

Nicht dazu in der Lage, seine Vermutung von der Hand zu weisen, biss Elanthin die Zähne zusammen und nickte. Wenn es jemanden geben sollte, der nicht das kleinste bisschen Furcht im Angesicht einer 3000 Kopf starken Menge empfand, würde sie diese Person ohne zu zögern als Idioten bezeichnen.

VeritaWhere stories live. Discover now