Kapitel 5

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Als die Umrisse der Hauptstadt am Horizont auftauchten, waren sie knappe sechs Tage unterwegs gewesen. Elanthin verspürte keinen Unwillen, die fremde Stadt zu betreten, selbst wenn das bedeutete, dass ihr Ende näherrückte. Nachdem sie zwei Tage lang in einen winzigen Raum eingesperrt gewesen war – gleich wie luxuriös –, fühlte sie sich wie ein Sack Knochen, den man kräftig durchgeschüttelt hatte. Nichts schien mehr an seinem angestammten Platz zu sein.

„Bist du gespannt darauf, eine gratianische Stadt zu sehen?" Elanthins Frage war im Grunde harmlos, aber Myrel zuckte zusammen.

„Nicht besonders. Ich war stets zufrieden mit den Siedlungen der Ebene."

„Ich habe nicht nach deiner Meinung zu meiner Stadtplanung gefragt." Elanthin hob eine Hand, um die schweren Kutschenvorhänge zur Seite zu schieben. Im Moment rauschten saftige Wälder in einer Mischung aus Grün und Braun an ihnen vorbei. Aufregend genug für zwei Verbannte, die noch nie einen gesunden Baum gesehen hatten. „Ich wollte nur eine Konversation starten."

Es war albern von ihr gewesen, aber je weiter sie in das Territorium von Gratia vordrangen, desto mehr sehnte sich Elanthin nach einer Verbindung zu etwas Bekanntem. Etwas Veritanischem. Zu Myrels Unglück gab es hier nichts außer ihr, auf das diese Beschreibung zutraf.

„Um ehrlich zu sein, fürchte ich mich hauptsächlich davor, was uns im Palast erwartet", erwiderte Myrel mit Vorsicht. „Man hat uns nicht viel erzählt."

Damit hatte sie recht, sie wussten rein gar nichts. Nach ihrem Gespräch mit König Aetrian am ersten Tag der Reise hatten sie keine weitere Nachricht von ihm erhalten. Dennoch hatte er die Delegation keinen Moment lang alleingelassen. Er ritt an der Spitze, während sie und ihre Zofe im Wagen ausharrten, sodass sie nicht vor der Ankunft am Palast erkannt werden würden.

Elanthin hatte mit der Möglichkeit gerechnet, dass die Gratianer sie den ganzen Weg zur Hauptstadt zerren würden, aber die Reise fühlte sich nach reiner Zeitverschwendung an. Das Endresultat würde sich dadurch nicht ändern, also wieso zögerten sie das Unvermeidliche heraus? Indem sie den König mit nicht mehr als einer Handvoll königlicher Wachen und einer Bediensteten an der Ewigen Barriere getroffen hatte, hatte sie sich bereits ergeben – ganz gleich welchen Pfad ihre Zukunft dadurch nehmen würde.

Unzufriedenheit mit der Reise wuchs seit dem ersten Tag in ihr, aber sie hatte weniger mit ihren eigenen Aussichten zu tun als mit denen ihrer Leute. Wenn es notwendig war, dass sie sich unterwegs im Wagen versteckte, wie erwartete Aetrian die Zustimmung seiner Leute zur Ankunft von tausenden Veritanern zu erhalten?

„Vielleicht plant er, sie in abgelegene Gebiete zu schicken", murmelte Elanthin sich selbst zu.

Myrel gab vor, den Monolog ihrer Herrin nicht zu bemerken, und behielt den Blick auf das Material in ihren Händen fixiert. Vor einigen Stunden hatten sie an einem Markt gehalten, um ein paar Schritte in der frischen Frühlingsluft zu machen und ihre Vorräte aufzufüllen. Beim Anblick der weiten Auswahl an billigem Faden und Stoff war Myrel beinahe ohnmächtig geworden. Dank einer gratianischen Wache hatte sie sicher ihren Weg zurück in den Wagen gefunden – im Besitz einiger dutzend Kleinigkeiten.

Seitdem hatte sie zu Elanthins Erleichterung nicht aufgehört zu nähen. Die Anspannung in der Luft hatte abgenommen, seit Myrel sich auf etwas anderes als ihre Nervosität konzentrieren konnte.

Elanthin umschloss ihre eingepackten Schwerter, als ob sie ihre Anwesenheit überprüfen wollte. Das war zu einer Angewohnheit geworden, seit sie die Barriere passiert hatten. Theoretisch sollte ihre Heimat diejenige sein, die Terror und Furcht auslöste, aber Elanthin fühlte sich wohler in den heruntergekommenen Siedlungen der Ebenen als in einer gratianischen Stadt. Während sie dort draußen auf die Veritaner zählen konnte und ihre Armee ihr den Rücken stärkte, würden Aetrians Hauptstadt und Palast mit Leuten gefüllt sein, die sie als Feinde betrachten musste.

VeritaWhere stories live. Discover now