Kapitel 11

71 6 0
                                    

Die Wagenräder ratterten über das Kopfsteinpflaster, welches das Eingangstor des Palasts mit dem weiten Hauptplatz von Gratia verband. Von vier Pferden gezogen und in Emerald gepolstert war die Kutsche weitaus luxuriöser als es notwendig gewesen wäre, aber Aetrian hatte darauf bestanden, mit dem offiziellen Wagen der Königsfamilie zu reisen. Es war nicht der einzige Aspekt des gratianischen Hofprotokolls, der Elanthin auf diesem Ausflug nervte; die dicken Damast-Vorhänge blieben zu jeder Zeit geschlossen und zu beiden Seiten der Kutsche ritten drei bewaffnete Wachen.

Wenn Aetrian nur auf diesem Weg den Palast verlassen konnte, dann hatte sie schwer unterschätzt, wie behütet er aufgewachsen war.

Behütet ist nur ein anderes Wort für eingesperrt, dachte Elanthin, während ihre Augen auf dem Königs lagen. Seine scharfen Gesichtszüge erinnerten an eine der Marmorstatuen in den Palastkorridoren, was aller Wahrscheinlichkeit nach kein Zufall war. Generationen von gratianischen Adeligen hatten in diesem goldenen Käfig gelebt, während ihre eigenen Vorfahren gegen Monster gekämpft und in der Dunkelheit gefroren hatten.

Zum ersten Mal fragte sie sich, ob ihre Verurteilung von Aetrians ausschweifendem Lebensstil voreilig gewesen war. Es bestand kein Zweifel an dem enormen Unterschied in Sicherheit und Komfort zwischen Gratia und den Ebenen, aber es gab bestimmt Aspekte der Kultur, die Elanthin weder gesehen noch gehört hatte.

War dieses Leben etwas, das Aetrian sich ausgesucht hatte? Abgesehen von ihr und dem König selbst war der private Flügel für die Königsfamilie verlassen. War er als Einziger von Haus Gratia übrig – genau wie sie die letzte Erbin von Verita war?

„Wenn du mich weiter so ansiehst, dann muss ich annehmen, dass ich dir gefalle."

Aetrian hatte gesprochen, ohne von dem Papierstapel in seinen Händen aufzusehen. Die wichtigsten Teile der Rede waren darauf mehrmals unterstrichen und kommentiert.

Entrüstet öffnete Elanthin den Mund, bevor sie ihn wieder schloss. Diese Situation hatte sie bereits erlebt und sie wusste es nun besser, als auf seine schamlose Provokation einzusteigen.

#

Vor 2 Tagen

Frühe Sonnenstrahlen hellten das geräumige Arbeitszimmer trotz seiner dunklen Eichenmöbel und schweren nachtblauen Vorhängen auf. Elanthin trat näher an den großen Tisch heran, der unter dutzenden Papierbergen, versiegelten Dokumenten und halb-leeren Tintenfässern kaum zu erkennen war. Der Rest des Zimmers war nicht ordentlicher; sogar die hohen Bücherregale, welche die Wände bedeckten, flossen über vor Büchern und Pergamentrollen. Obwohl Aetrian mehr als eine Bibliothek in diesem verschwenderischen Palast besaß, schien er seine Dokumente gerne an einem einzigen Ort zu horten.

Aufgrund des guten Wetters waren die Vorhänge zurückgezogen worden und die Fenster standen einen spaltweit offen. Die sanfte Brise trug Aetrians melodische Stimme zu Elanthin, während sie ihre schweren gratianischen Röcke von der Tür zum Tisch schleppte. Er saß aufrecht hinter dem Chaos, das seine Arbeit kreiert hatte, in semi-offiziellem Aufzug. Unter der gold-bestickten Robe blitzte eine schlichte Kombination aus Hemd und Hose hervor.

Wie ein Drache auf seinem Berg aus Gold, schoss es ihr durch den Kopf.

„Was bringt dich her? Hast du mich vermisst?"

Elanthin war nicht in der Stimmung dafür, sein Spiel mitzumachen. Da Aetrian sich die meiste Zeit im Arbeitszimmer vergrub, Audienzen hielt oder beim Tee von gratianischen Adeligen belagert wurde, hatte sie die letzten vier Tage mit ziellosem Wandern verbracht. Die Bibliotheken waren ein bequemer – und vor allem leerer – Ort gewesen, um sich mit der gratianischen Sprache, den Bräuchen und dem Stand der Magie vertraut zu machen, aber Elanthin fühlte sich überflüssig ohne Mission und hilflos wie eine welkende Blume im Glashaus.

VeritaWhere stories live. Discover now