Kapitel 4

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Die Gratianer hatten Elanthin reichlich Zeit für Verabschiedungen eingeräumt, während sie ihre Zelte abbauten und sich für den langen Marsch nach Hause wappneten. Niemand hatte ausgesprochen, dass sie ihre Kameraden zum letzten Mal sehen würde, aber des Königs Großzügigkeit sprach lauter als Worte es könnten.

Da Elanthin sich weder in der Gesellschaft von Freunden noch Familie befand, ähnelten ihre letzten Worte an die Veritaner letztendlich einem Befehl: Sie sollten stark im Angesicht des drohenden Disasters und loyal zur Krone Veritas in all ihrem Handeln bleiben – bis auf Widerruf.

Ihr Austausch hatte kaum eine Viertelstunde gedauert, aber die Unzufriedenheit in den Augen ihrer Delegation würde Elanthin bis an ihr Sterbebett verfolgen. Sie wusste, dass sie die richtige Entscheidung traf, aber sie fühlte sich dennoch leer und verloren, als sie ihren Weg zurück zu den wartenden Gratianern antrat.

Die Soldaten des fremden Königs brachen in der Form einer langen Karawane auf, die Elanthin an eine Schlange erinnerte; eine Formation, die dafür gedacht war, sich im Falle eines Angriffs schnell aufzulösen. Das bedeutete, dass die Gratianer zumindest verstanden, wie wichtig Geschwindigkeit und Flexibilität für ihr Überleben bei einer Begegnung mit den Monstern der Tiefe waren.

Für einen kurzen Moment erwischte Elanthin sich bei dem Wunsch, tatsächlich einem großen Schwarm Monster unterwegs zu begegnen. Wenn auch nur, um den Gratianern eine kleine Kostprobe von den Schwierigkeiten zu geben, denen sich die Veritaner für fast 300 Jahre ausgesetzt gesehen hatten. Die Befriedigung wäre jedoch von kurzer Dauer, da Elanthin keine andere Wahl haben würde, als in erster Linie mitzukämpfen.

Oder gab es noch eine andere Möglichkeit für sie, wenn sie ohnehin dem Tod geweiht war? Wenn durch einen unglücklichen Zufall der König im Kampf fallen würde ...

„Warum lässt er Euch zu Fuß gehen? Hat man nicht von Kutschen gesprochen?", grummelte Myrel, die mühevoll Schritt mit ihr hielt. Die Lederstiefel der Zofe waren schmutzgetränkt und Elanthin nahm an, dass die Erschöpfung aus ihr sprach.

„Geduld", bat sie, insgeheim dankbar für die Unterbrechung ihrer morbiden Überlegungen. Solange das Abkommen nicht unterzeichnet war, wäre es Hochverrat an ihrem eigenen Volk, König Aetrian nicht zu schützen. Sie bezweifelte, dass sein Nachfolger dem Abkommen noch zustimmen würde.

Myrel lächelte entschuldigend, als ihre Blicke sich trafen und Elanthin seufzte auf. Sie war nicht sicher, ob die Zofe sie aus freien Stücken begleitete, aber wie gewöhnlich war die Bitte der Königin als Befehl behandelt worden. Inzwischen war Myrels Chance, zu ihrem Heim in dem kargen Palast zurückzukehren, lange verstrichen. Sie waren zwischen zwei Reihen Soldaten gequetscht, die von Kopf bis Fuß in eiserne Rüstung gekleidet waren und die Ebenen nach Gefahren absuchten.

Da Elanthin die Schwerter an ihrer Hüfte hatte behalten dürfen, war sie verwundert darüber, dass die Soldaten ihr und Myrel nicht mehr Aufmerksamkeit zollten.

Ich nehme an, sie beachten uns nicht, weil ich nur eine Adelige bin und Myrel eine Zofe, schloss Elanthin im Stillen. Ausgehend vom Erscheinungsbild des Königs waren die adeligen Familien von Gratia für gewöhnlich nicht im Kampf geschult.

Elanthin musterte den bestickten Rücken, der sich an der Spitze der Delegation vorwärts bewegte. Er wurde von einem weiteren Paar Soldaten abgeschirmt, das blaue Banner trug. Das Silber von Aetrians Haar reflektierte das magere Sonnenlicht, das durch die graue Wolkenschicht brach, und erschwerte es Elanthin, ihn direkt anzusehen. Doch das Material reichte für ein erstes Urteil aus. Der König war nicht fragil, aber seine Haut war unberührt von Narben oder Krankheit. Ebenso wenig trug er eine eigene Waffe bei sich. Seine Sicherheit wurde ausschließlich durch die Wachen an seiner Seite garantiert – und womöglich durch seinen Berater, der von Zeit zu Zeit nervöse Blicke auf die Veritaner warf.

VeritaWhere stories live. Discover now