Kapitel 21

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Es dauerte eine ganze Stunde, bis wir am Friedhof ankamen. In der Zeit hatten wir kaum miteinander gesprochen, da wir uns nichts zu sagen hatten. Wir stiegen aus dem Bus und standen regelrecht schon vor dem Friedhofstor. Ich drehte mich zu Jeongguk um, der völlig verstört durch die Gitter in den Friedhof hineinschaute. Ich runzelte die Stirn und wedelte mit meiner Hand vor seinem Gesicht herum. Was hatte er denn?

"Erde an Jeongguk", sagte ich und er sah mir ruckartig in die Augen.

"Wo ist der Blumenladen? Ich kauf die Blumen und du kannst schon mal zu deinen Eltern", fragte er mich und ging mehrere Schritte vom Tor weg.

"Okay... Ähm, du musst ungefähr fünfzig Meter gerade aus laufen. Der kleine Laden ist dann auch direkt auf der rechten Seite", erklärte ich ihm und war etwas verwirrt.

Jeongguk hob beide Daumen und flüchtete förmlich in die Richtung, die ich ihm gezeigt hatte. Ich zuckte mit meinen Schultern und lief dann durch das Tor. Der Kies unter meinen Füßen knirschte bei jedem Schritt und es war deutlich kühler in dieser Gegend als in der Innenstadt. Eine ältere Dame ging an mir vorbei und lächelte mich leicht an, was ich erwiderte. Ich war mir sicher, dass mich alle Witwen und Witwer kannten. In den letzten Monaten war ich manchmal mehrere Tage, von morgens bis abends bei meinen Eltern. Zu meinem Glück sprachen mich die ganzen Leute nie an, sondern liefen an dem Grab meiner Eltern vorbei und fanden selbst heraus, wieso ich ständig hier war.

Auf dem Weg schnappte ich mir eine Gießkanne und füllte Wasser in diese hinein. Wenn man den Friedhof betrat, lief man einen ungefähr vier Meter breiten Kiesweg entlang und an den Seiten waren Reihen von Gräbern in den verschiedensten Marmor- und Steinfarben. Vor jeder vierten Reihe gab es einen kleinen Wasserhahn und eine Stange mit Gießkannen. Meine Eltern befanden sich in der vierten Reihe, sodass ich nicht lange laufen musste und dementsprechend direkt eine Gießkanne füllen und mitnehmen konnte.

Ich schleppte die volle Gießkanne zum Grab und stellte sie auf dem Boden ab. Tief atmete ich durch und betrachtete das Bild meiner Eltern auf dem dunklen Marmorstein. Anscheinend war mein Onkel vor wenigen Tagen hier, da der Stein glänzte und das Grab gepflegt wurde. Ich setzte mich auf den Kieselweg und blieb für mehrere Sekunden einfach still.

Wenn ich hier her kam, packte mich die Sehnsucht viel mehr. Es trieb mir jedes Mal die Tränen in die Augen und die Schmerzen in meiner Brust wurden unermesslich. Ich musste die Realität akzeptieren. Meine Eltern lagen zusammen unter der Erde und kamen nie wieder zurück. Mir kullerten kleine Tröpfchen aus den Augen, die ich schnell wegwischte. Ich wollte vor Jeongguk nicht weinen. Es war schon schlimm genug, dass ich ihn mitgenommen hatte.

"Wisst ihr, ich hatte mir so sehr gewünscht ein Zeichen von euch zu bekommen. Aber nach fast acht Monaten habe ich die Hoffnung aufgegeben. Wie sollt ihr mir denn ein Zeichen geben? Ihr seid nun mal tot. Wir sind nicht bei König der Löwen, sodass ihr mit mir über den Himmel kommunizieren könnt. Appa, du hättest das bestimmt total cool gefunden, wenn das im echten Leben funktionieren würde. Eomma würde dich jeden Tag anschreien, dass du endlich die Klappe halten und mich in Ruhe sollst, weil du pausenlos deine unlustigen Witze erzählen würdest... Ich ver-vermisse euch so sehr", erzählte ich ihnen und lachte etwas bei der Vorstellung von meinem Vater an Mufasas Stelle am Horizont, jedoch verging mir das Lachen ganz schnell, als mich dieses schreckliche Gefühl der Einsamkeit heimsuchte.

Schluchzend verdeckte ich mein Gesicht hinter meinen Händen und war einfach so verzweifelt. Ich würde alles dafür geben, um sie einmal umarmen zu können. Ich wollte nicht mal mit ihnen reden. Eine einzige Umarmung würde mir genügen. Stockend holte ich Luft und strich meine Tränen weg.

"Ich habe einen neuen Nachbarn und er ist ziemlich komisch. Er nervt mich und möchte mich vor irgendwas schützen. Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll. Das einzig Gute an ihm ist, dass er mich von meiner Trauer ablenkt, weil ich mich so über ihn aufrege", murmelte ich und blinzelte mehrmals, da ich nicht aufhören konnte zu weinen.

Jeongguk lenkte mich wirklich mit seiner dummen Art ab. In den letzten Tagen hatte ich kaum geweint, da er mich so furchtbar wütend machte. Wo war dieser Idiot überhaupt? Wie lange brauchte man um Blumen zu kaufen?

Ich drehte mich in Richtung Tor und im selben Moment kam der Punk mit drei großen Blumensträußen auf dem Arm in den Friedhof. Meine Augen weiteten sich, weil sie riesig waren. Er hatte sogar Schwierigkeiten, sie alle aufeinmal zu tragen. Die Tränen stoppten wie von selbst, weil ich so geschockt war. Ich hatte erwartet, dass er mit ein paar Blümchen in der Hand ankam und nicht mit fetten Blumensträußen.

Nach mir suchend schaute er sich beim Gehen auf dem Friedhof um und ignorierte die ganzen Blicke, die ihm die ganzen Leute zu warfen. Als er mich entdeckte, fing er an zu strahlen und beschleunigte seine Schritte. Mir schoss das Blut in den Kopf, da die ganzen Menschen merkten, dass er mit den Blumen zu mir wollte. Ich stand schnell vom Boden auf und wollte ihm gleich eine Standpauke halten, jedoch blieb mir die Spucke im Hals stecken, als ich realisierte, welche Blumen er ausgesucht hatte.

"Da bin ich wieder. Die Frau im Blumenladen war ziemlich nett und hat mir diese schönen Blumen zusammengesteckt. Die roten Nelken sind für deine Mutter und die weißen Nelken für deinen Vater. Ich habe auch noch orangene Calendulas gesehen und dachte mir, dass sie ganz gut zu dir und zum Oktober passen. Calendulas bieten Schutz und Treue und es heißt, dass ihre symbolischen Eigenschaften Unvergänglichkeit, Gerechtigkeit und Lebensfreude sind. Ich dachte mir, dass du sie mögen wirst, weil dir diese Dinge, nach dem Tod deiner Eltern fehlen", sagte Jeongguk fröhlich und hielt mir meine Geburtsblumen vor die Nase, während er ihre Bedeutung erklärte.

Sprachlos nahm ich den großen Blumenstrauß in die Hände und bemerkte, dass es genau acht Blüten waren. Es waren acht rote Nelken, acht weiße Nelken und acht Calendulas. Acht Monate waren es her, seitdem meine Eltern verstorben waren und er hatte die Lieblingsblumen meiner Eltern und meine Geburtsblume ausgewählt. Jeongguk stellte vorsichtig die Blumen in die Vasen auf dem Grab und schnappte sich die Gießkanne, um etwas Wasser hineinzugeben.

"Wieso hast du dich ausgerechnet für diese Blumen entschieden?", fragte ich ihn und fühlte mich wie betäubt.

"Die Calendulas habe ich dir ja schon erklärt. Bei den Nelken weiß ich nicht mal so genau, warum ich die haben wollte. Sie haben mich einfach angezogen. Ich fand sie faszinierend und ich mag ihre Bedeutung. Rote Nelken stehen für Liebe und Zuneigung und weiße Nelken für Reinheit und viel Glück. Für mich passte es einfach zu deinen Eltern und wenn ich ihr Hochzeitsfoto ansehe, dann bestätigt das mein Gefühl", antwortete er mit einem leichten Lächeln auf dem Lippen, während er das Bild meiner Eltern betrachtete.

Wie auf Knopfdruck brach ich ein weiteres Mal in Tränen aus und kehrte ihm schnell meinen Rücken zu, damit er es nicht sah. Mit diesen wenigen Worten hatte er mich zerstört. Warum wusste er so viel über Blumen und ihre Bedeutung? Keiner in meinem Umfeld interessierte sich dafür und dieser Punk tat es? Was ging hier vor?

"Du wolltest dich doch bei meinen Eltern entschuldigen. Bring es endlich hinter dich", sagte ich etwas patzig und mit überraschend fester Stimme, weil ich nur noch nach Hause wollte.

"Wie unangenehm... Kannst du nicht etwas weg gehen?", murmelte Jeongguk peinlich berührt.

"Meine Fresse. Du bist so ein Kind", verdrehte ich die Augen und wischte mir unauffällig die Tränen aus dem Gesicht, bevor ich einfach bis zum Ende der Reihe lief, um ihm seinen Freiraum zu geben.

Guardian | JikookWhere stories live. Discover now