Kapitel 1

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Jimins Sicht:

Still stand ich vor den Gräbern meiner Eltern, in denen die Überreste ihrer Körper in einem Sarg vergraben wurden. Sie waren bis zur Unerkennbarkeit in den Flammen gefangen und starben einen qualvollen Tod. Mein Onkel, der Bruder meines Vaters, plante mit mir ihre Beerdigung und nahm mich für einige Wochen bei sich auf. Er hatte weder Frau noch Kinder, darum störte ich auch nicht. Gerade unterhielt er sich mit den anderen Trauernden, die konstant am Weinen um meine Eltern waren. Dagegen starrte ich emotionlos durch die Gegend und fühlte mich wie betäubt. Die letzten Wochen weinte ich pausenlos, sodass ich keine Tränen mehr raus bekam. Man sah mir an, wie beschissen es mir ging. Ich hatte dunkle Augenringe und war so blass wie eine Wand.

Die einzige Frage, die ich mir ständig stellte, war, womit sie so einen grausamen Tod verdient hatten. Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass sie einfach im späten Alter von der Erde gingen und nicht so brutal aus dem Leben gerissen wurden. Viele meiner Verwandten teilten mir ihr Beileid mit und gaben mir haufenweise Briefumschläge mit Geld darin, um mich zu unterstützen. Die Beerdigung bezahlte mein Onkel komplett. Darum musste ich mir keine Sorgen machen. Meine Freunde sagten mir, dass ich jeder Zeit zu ihnen kommen könnte, wenn ich jemanden zum Reden brauchte. Doch mir war nicht nach Reden. Ich sprach kaum noch. Die meisten Wörter tauschte ich mit meinem Onkel aus, der aber genauso wenig wie ich sprechen wollte. Sein großer Bruder war tot. Sein einziger Bruder. Er wurde auch von ihm zurückgelassen.

"Jimin, wir fahren jetzt zurück nach Busan. Du kannst jeder Zeit zu uns kommen, wenn du einen Tapetenwechsel brauchst", rief meine Tante, die jüngere Schwester von meiner Mutter, und kam auf mich zu, um mich fest zu umarmen.

Ich erwiderte die Umarmung fest und schloss die Augen, da sie meiner Eomma am ähnlichsten war. Ihr Angebot war auch sehr lieb gemeint, aber ich verkraftete es nicht, auf Dauer ihr ins Gesicht zu sehen. Sie sahen sich zum Erschrecken ähnlich, was bei meinem Onkel zum Glück nicht der Fall war.

"Danke, dass ihr da wart. Kommt gut nach Hause", sagte ich ihr und zwang mich zu einem kleinen Lächeln.

"Nichts zu danken, mein Schatz. Pass auf dich auf. Bleib stark, okay?", meinte sie mit Tränen in den Augen und strich mir sanft über die Wange, bevor sie sich schnell umdrehte und davonging.

Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und schluchzte leise vor sich hin, da ihre Schultern bebten. Ihr Mann nahm sie sofort in den Arm, nachdem sie bei ihm ankam und führte sie aus dem Friedhof. Wer konnte es ihr auch verübeln? Ihre große Schwester war gestorben, die sie vom ganzen Herzen liebte. Ich atmete stockend ein und wand mich dann wieder meinen Eltern zu, die mich auf ihren Bildern breit anlächelten. Es tat so weh. Keiner konnte mir jemals diesen Schmerz nehmen, der sich in meinen Herzen gebohrt hatte.

Nach und nach verließen die anderen Trauernden den Friedhof, bis ich ganz allein war und mich langsam auf die Knie sinken ließ. Ich streichelte über die frischw Erde ihrer Gräber und betrachte die ganzen Blumen, die alle hinterlassen hatten. Ich biss mir fest auf die Lippen und ballte meine Hände zu Fäusten, während die Tränen ihren Weg über meine Wangen bahnten.

"Warum habt ihr mich einfach so allein gelassen? Ich fühle mich so leer ohne euch! Ihr habt einen Teil von mir mit euch in den Tod gerissen. Wie soll ich jemals wieder glücklich werden? Wie zur Hölle? WIE?", schluchzte ich gebrochen und schlug fest mit meiner Faust auf den Kieselweg unter mir.

Ein bitterer Schmerz durchfuhr meine Hand und ich weinte schweigend weiter. Verzweifelt kroch ich zwischen die zwei Gräber und legte mich in die Mitte von ihnen. Dass mein schwarzer Anzug dabei dreckig wurde, interessierte mich kaum. Ich drehte mich auf die Seite, sodass ich das Bild von Eomma und Appa vor Augen hatte. Ich zog die Beine an meine Brust und strich immer wieder über die Erde.

"Ich möchte nicht allein sein. Bitte, holt mich zu euch oder schickt mir ein Zeichen, dass ich euch nicht ganz verloren habe. Irgendein Zeichen, bitte. Mir ist egal, was es ist. Ihr könnt in meinen Träumen erscheinen, oder sonst was. Sagt mir bloß, dass ihr von oben aus auf mich aufpasst. Ich vermisse euch so sehr. Diese Einsamkeit bringt mich langsam um. Wenn ich bloß Zuhause gewesen wäre, dann wären wir zu dritt gegangen", bettelte ich sie an und bohrte meine Finger in die Erde.

Gequält schloss ich die Augen und weinte vor mich hin, da ich keine Antwort von ihnen bekam. Ich würde alles dafür tun, um noch einmal ihre Stimmen hören zu dürfen. Dieses scheiß Feuer hatte alles von ihnen zerstört. Ich hatte rein gar nichts mehr von ihnen. Sie wurden aus meinem Leben gelöscht, als wären sie nie da gewesen. Das Einzige, was ich von ihnen besaß, waren die ganzen Bilder und Videos auf meinem Handy. Meine Mutter erzählte mir damals, dass sie es niemals verkraften würde, wenn mir irgendwas passieren sollte. Damals versicherte ihr immer, dass mir niemals etwas geschehen würde, wenn Appa an meiner Seite war. Jetzt fühlte ich mich so unsicher und schutzlos. Mein Schutzschild wurde mir vom Schicksal gestohlen. Ich fühlte mich so schwach, sodass mein Körper immer schwerer wurde und meine Gedanken sich langsam ausschalteten, bis ich zwischen meinen Eltern einschlief.

Guardian | JikookWo Geschichten leben. Entdecke jetzt