Kapitel 45

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Nick

Total erschöpft versuche ich mein Müsli irgendwie runter zu kriegen, während ich zum ersten Mal seit über einem Monat wieder in unserer Küche sitze. Denn ich habe heute Nacht kaum ein Auge zu bekommen, da ich mir wieder Sorgen um Emma gemacht habe und mir gerade nichts sehnlicher wünsche, als diesen Mistkerl endlich hinter Gittern zu bringen.

Als ich mein Müsli gerade in die Spüle stellen möchte, taucht plötzlich Luke vollkommen unerwartet in der Küche auf und scheint sich morgens um acht bereits ein Bier aus dem Kühlschrank zu genehmigen.

,,Auch wieder da", begrüßt er mich gelangweilt, als er den Kühlschrank wieder zuknallt und einen großen Schluck aus der Flasche zu sich nimmt. Er würdigt mich dabei keines Blickes und macht mir dadurch mehr als deutlich, dass er mich in den vergangenen Wochen kein Stück vermisst hat. Doch das beruht auf Gegenseitigkeit, weshalb mir das in keinster Weise etwas ausmacht.

,,Was hat dich um diese Uhrzeit schon aus dem Bett verschlagen ?", frage ich ihn leicht gereizt, während ich mich gegen die Spüle lehne und ihn mit verschränkten Armen ansehe. Schließlich ist es erst acht Uhr morgens und für gewöhnlich bekomme ich Luke erst gegen Mittag zu Gesicht. Doch er zuckt lässig mit den Schultern und trinkt sein Bier mit einem letzten Zug aus. 

,,Ich muss heute was zu Ende bringen", klärt er mich auf und schmeißt die leere Bierflasche mit Schwung in eine Kiste neben dem Kühlschrank hinein, sodass es laut zu scheppern beginnt.

,,Und was?", harcke ich weiter nach, da ich mich mit seiner Aussage einfach nicht zufrieden gebe.

,,Das erfährst du noch früh genug kleiner Bruder", verspricht er mir mit einem breiten Grinsen und es hört sich wie eine Drohung an. Deshalb sehe ich ihm angespannt hinterher, als er sich von mir abwendet und aus der Küche verschwindet. Das darauffolgende Zuschlagen unserer Haustür und schließlich das Starten eines Motors beweist mir, dass er gerade mit seinem Wagen weggefahren sein muss.

Ich verharre jedoch noch für einen kurzen Moment in der Küche, um über seine Worte nachzudenken und mache mir Gedanken darüber, was er jetzt schon wieder im Schilde führt. Doch ich werde es früher oder später eh erfahren, weshalb ich versuche, mir erst dann Sorgen zu machen, wenn es soweit ist.

Ich beschließe es daher bei seiner Aussage zu belassen und laufe wieder nach oben in mein Zimmer, um noch ein bisschen für die letzten Prüfungen zu lernen, die in ein paar Wochen anstehen. Doch dafür brauche ich mein Tablett, das jedoch nirgends in meinem Zimmer aufzufinden ist. Vermutlich hat Luke es mal wieder ohne zu fragen an sich genommen, weshalb ich in sein Zimmer gehe, um es zu suchen. Dabei ist es mir scheiß egal, dass ich sein Zimmer nicht betreten darf. Denn wenn er sich schon an meinen persönlichen Dinge bedient, muss er auch mit den Konsequenzen rechnen.

In seinem Zimmer herrscht jedoch das reinste Chaos, da überall Klamotten auf dem Boden verteilt sind, die dort wahrscheinlich schon seit Wochen rumliegen. Wenn es um Ordnung geht, ist mein Bruder schon immer schlimmer als ich gewesen, wodurch es um einiges schwieriger wird, mein Tablett zu finden. Da es aber nicht offen herumliegt, beschließe ich, seine Schränke zu durchsuchen.

Ich fange bei seiner Kommode an, doch als ich die mittlere Schublade öffne, erstarre ich sofort und meine Augen weiten sich geschockt. Denn mehrere Bilder von Emma fallen mir ins Augen, die er im Laufe der letzten Monate heimlich von ihr aus der Ferne gemacht haben muss. Mein Herz setzt aus, als ich schließlich auch Bilder von Sarah entdecke. Bilder von ihr, wie sie leblos und blutüberströmt auf den Boden des Waldes liegt, weshalb ich außer mir zu fluchen beginne und die Schublade vor Wut aus den Angeln reiße. Ein lauter Knall schallt durch den Raum, als die Schublade mitsamt den Bilder auf dem Fußboden donnert und sich die einzelnen Bilder auf diesem verteilen. In meinem Kopf setzt sich nun das Puzzle zusammen und ich kann einfach nicht fassen, wie dumm ich sein konnte, um die Wahrheit nicht zu erkennen. Die Wahrheit, dass ich monatelang mit Emmas Vergewaltiger und Sarahs Mörder unter einer Decke gewohnt hatte. Ich bin vor Hass und Schock zunächst wie gelähmt, sodass es sich wie eine Ewigkeit anfühlt, bis ich es schaffe, mein Handy aus der Hosentasche zu ziehen und Liam anzurufen, der bereits nach dem zweiten Klingeln abnimmt.

,,Emma ist weg!", informiert er mich sofort, weshalb sich all meine Nackenhaare aufstellen. Denn ich hatte gehofft, dass Emma gerade bei ihm und damit in Sicherheit ist.

,,Es ist Luke. Er hat Sarah umgebracht und die Bilder in seinem Schrank aufbewahrt", kläre ich ihn nun wutentbrannt auf und laufe bereits nach unten zu meinem Wagen. Denn wir müssen Emma schnellstmöglich finden, da ich nicht weiß, wo Luke gerade steckt.

Ich kann Liam aufgebracht fluchen hören und er scheint seinen Wagen noch mehr zu beschleunigen.

,,Wo ist er? Ist er bei dir?", bombardiert er mich mit Fragen und ich habe inzwischen meinen Wagen erreicht. 

,,Er ist vor ein paar Minuten weggefahren, weil er etwas zu Ende bringen wollte", kläre ich ihn angespannt auf, wodurch mir mein Handy vor Entsetzen beinahe aus der Hand fällt. Denn erst jetzt sickert Lukes Drohung von vorhin zu mir durch und es läuft mir eiskalt den Rücken runter.

Auch Liam scheint die Drohung zu verstehen, da er wieder wutentbrannt zu fluchen beginnt.

,,Emma ist zu unserem Baumhaus gefahren und ich bin gleich bei ihr. Bitte ruf die Polizei!", bittet er mich noch mit wutverzerrter Stimme, bevor er einfach auflegt, sodass ich die Polizei anrufen kann. Ich wähle daher sofort die Nummer von Mr.Paik und schildere ihm alles so schnell ich kann, während ich angespannt in meinem Wagen steige. Mr. Paik verspricht mir, sofort mit Verstärkung in den Wald zu fahren und ich lege auf, um ebenfalls dorthin zu rasen und meinen Bruder aufhalten zu können.

Doch in diesem Moment fällt mir Dads Waffe ein, die er seit Jahren im Schlafzimmer in seinem Safe aufbewahrt. Den Code für den Safe hat er bislang nur mir und meiner Mom anvertraut, sodass wir uns im Notfall gegen Einbrecher wehren können. Doch Luke hatte er nie genug Vertrauen entgegengebracht, weshalb ich davon ausgehe, dass sich die Waffe noch immer im Safe befinden muss. Ich steige daher noch einmal aus meinem Wagen aus, um ins Schlafzimmer meiner Eltern zu rennen und mich vor den Safe stellen zu können. Gebe mit zitterndern Hände den Code ein und hole schließlich Dads Waffe heraus, die ich zum ersten Mal in meinem Leben in den Händen halte. Doch der Gedanke, sie heute wirklich benutzen zu müssen, lässt mich kreidebleich werden.  Aber ich bin mir ziemlich sicher, es durchzuziehen zu können, wenn mir keine andere Wahl bleibt. Ich renne daher mit der Waffe in der Hand wieder zu meinem Wagen und rase diesmal los.

Ich umklammere das Lenkrad jedoch die ganze Fahrt über mit festem Griff, da ich Angst habe, wieder zu spät zu kommen und meinen Freunden nicht mehr rechtzeitig helfen zu können.

I need you to save meWhere stories live. Discover now