36 - Lars

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Der Wind war eisig und schlug Lars bei dem Tempo, in dem er immer weiter am Strand entlang lief, hart ins Gesicht. Er wusste nicht, wie viele Kilometer er so schon lief, denn er hatte sein Handy ausgeschaltet. Aber es mussten einige sein. Lars wollte auch einfach nur weg von dem Ort, an dem Kevin und die anderen waren. Er hatte immer noch nicht verstanden, was Kevin ihm da eigentlich gesagt hatte. Und verarbeitet hatte er es schon gar nicht. Er hatte zwar eben nochmal mit Kevin gesprochen und ihm gesagt, dass er Abstand brauche, sie es aber in Berlin schon wieder hinbekommen würden, aber er wusste nicht, ob das richtig war. Könnte er mit Kevin wieder normal umgehen? Könnte Kevin ihm verzeihen? Wie wird es sich auf ihre gemeinsame Arbeit auswirken? War er zu hart zu Kevin?

All diese Gedanken schossen Lars durch den Kopf, obwohl er Kopfhörer in den Ohren hatte und Musik hörte, mit der er sich eigentlich immer ablenken konnte. Aber jetzt war es anders. Also stoppte er irgendwo im nirgendwo, nahm die Kopfhörer aus den Ohren und schaute das erste Mal wieder auf sein Handy. Es war mittlerweile schon Nachmittag. Also musste er schon einige Zeit unterwegs sein. Und seine Frau hatte ihm geschrieben. Er hatte sich eigentlich sehr darüber gefreut, als sie ihm geschrieben hatte, dass sie auch kommen würde. Aber es war auch etwas kompliziert, nach der Situation mit Kevin. Aber er hatte sich trotzdem gefreut. Doch jetzt hatte sie ihm geschrieben und angekündigt, dass sie doch nicht kommen würde. Sie sei krank. Etwas frustriert seufzte Lars. Der einzige Lichtblick fiel jetzt also auch weg. Aber gut, da konnte er jetzt nichts machen. Und hoffte einfach nur, dass es ihr nicht so schlecht ging. Aber vielleicht war es so auch besser. So wurde Kevin zumindest nicht auch noch mit seiner Frau konfrontiert. Und eigentlich wollte Lars ja auch nicht, dass es Kevin noch schlechter ging.

Er wollte generell nicht, dass es Kevin schlecht ging. Und jetzt hatte er dafür gesorgt, dass es so war. War er deshalb ein schlechter Mensch? Wahrscheinlich einfach ein schlechter Freund. Er hätte mehr Empathie zeigen sollen. Aber wie sollte er besonnen reagieren in einer Situation, in der so ein guter Freund ihm gestand, dass er Gefühle für ihn hat? Hoffentlich würde Kevin das irgendwann verstehen können. Denn eigentlich war Lars klar, dass er diesen guten Freund nicht verlieren wollte. In der Politik war es selten, dass man Freunde innerhalb dieses Betriebes hatte. Und hatte er Kevin jetzt verloren? Es wäre zumindest nicht verwunderlich. Wahrscheinlich musste es für Kevin tausendmal schwerer sein. Und er hatte ihm gesagt, dass er Abstand brauchte. Das hatte nichtmal Kevin gesagt. Er war es gewesen.

So langsam wurde Lars klar, dass es das nicht gewesen sein könnte. Sie mussten doch irgendeine Lösung finden! Aber wie diese Lösung aussehen sollte, da hatte er keine Ahnung. Am liebsten hätte er einfach auf ein Zeichen gewartet, dass ihm bei diesem Problem half. Aber er war weder sonderlich religiös, noch glaubte er an Übernatürliches. Deshalb fiel diese Option wohl auch weg. Deshalb hielt er es momentan nach wie vor für die einzige Lösung, dass sie sich zumindest vorerst privat voneinander fern halten. Vielleicht würde es dann irgendwann auch wieder möglich, dass sie wieder normal miteinander umgehen könnten. Aber ob das richtig war?

Mittlerweile fing es auch noch an zu nieseln. Das Wetter spiegelte die Situation ziemlich gut wider. Hässlich, kalt, bedrückend. Und normalerweise würde Lars spätestens jetzt wieder zurück laufen. Aber an diesem Tag war nichts normal und es tat gut, den Regen zu spüren. Die Wellen, die immer wieder auf den Sand schwappten, wurden auch immer größer und stärker. Sie ließen beinahe keine Pausen. Eine Welle nach der anderen rollte auf den Strand zu. Und irgendwie war es faszinierend. Lars musste daran denken, dass es doch in der Natur immer noch größere Dinge gab, als das Leben eines einzelnen Menschen. Und als die Probleme und Gedanken eines einzelnen Menschen. Manchmal vergaß er das gerne.

Nachdem er die Natur noch einige Zeit beobachtete, machte er sich wieder auf den Weg in die Richtung zurück, aus der er eben noch gekommen war. Und so schnell waren seine Gedanken dann doch wieder bei der ganzen Problematik mit Kevin angekommen. Eine kurze Zeit konnte er es verdrängen. Aber jetzt waren die Gedanken wieder da. Die rauen Wellen hatten ihn daran erinnert, wie Kevin vor einigen Tagen seekrank geworden war. Und wie er sich um ihn gekümmert hatte. Er hatte sich dazu verpflichtet gefühlt. Hatte er Kevin damit falsche Signale gegeben? Im Nachhinein betrachtet hätte er sich wahrscheinlich anders verhalten. Er hatte also auch eine gewisse Schuld an der Situation. Natürlich hatte er die. Es waren ja immer zwei beteiligt. Also sollte er nicht nur Kevin die Schuld an der ganzen Sache geben. Er hatte es nicht besser gemacht. Und wahrscheinlich hatte er auch oft Äußerungen gemacht, die Kevin bestärkt hatten. Aber er wusste ja nicht...

Mit einem Mal geriet eine Person in Lars Sichtfeld und er bremste ab, was ihn ins Stolpern brachte. Einige Meter vor ihm stand jemand mit dem Rücken zu ihm gewandt, der so auf das Meer starrte, wie Lars es eben selber getan hatte. Es war eindeutig Christian. Was machte er denn alleine hier?

"Christian? Was machst du hier?", fragte Lars überrascht. Er hatte eigentlich nicht damit gerechnet, noch jemanden hier draußen zu treffen. Erschrocken drehte sich Christian um und fuhr sich schnell mit einer Hand über seine Augen. Jetzt war Lars noch überraschter. Obwohl der Liberale sich bemühte, dass Lars es nicht bemerkte, sah Lars natürlich sofort, dass er geweint hatte. Das hatte er bei Christian ja noch nie gesehen! Wahrscheinlich war er deshalb auch alleine hier. Aber so langsam fragte sich Lars, was denn hier los war. Lief hier jetzt noch ein Drama ab? Sollte es nicht langsam mal genug sein? Und sollte diese Fahrt nicht eigentlich positiv für die Koalition sein? Momentan haderte Lars ein wenig an der Idee seines Kanzlers. Wirklich positiv schien gerade nicht viel zu laufen. Christian räusperte sich und versuchte wohl, nicht so durch den Wind zu wirken.

"Ich musste nur mal kurz raus. Beziehungsweise etwas klären. Und du?", machte Christian nur vage Andeutungen. Klar, Lars und er hatten eigentlich nichts miteinander zu tun. Zumindest privat. In der Koalition mussten sie miteinander auskommen.

"Ja, geht mir ähnlich. Mal den Kopf frei bekommen und etwas laufen. Irgendwie passieren hier viele Dinge, mit denen ich nicht gerechnet hätte. Aber wenn du irgendetwas erzählen willst, dann mach das. Ich weiß zwischen beruflichen und privaten zu trennen."

Behauptete Lars zumindest. Bei Kevin war das was anderes. Da waren die Grenzen zwischen beruflichen und privaten auch deutlich schwammiger. Christian schien dann aber tatsächlich darauf einzugehen. Zumindest ließ er sich einfach auf dem Sand nieder und Lars tat es ihm dann gleich. Auch wenn selbst der Sand kalt war. Und der Wind und Regen tat sein übriges.

"Na gut, danke. Aber das muss erstmal unter uns bleiben. Ich war hier gerade eben mit Franca. Und ich habe mich von ihr getrennt. Jetzt ist sie weg und ich brauchte mal einen Moment, um damit klar zu kommen. Und jetzt hast du mich gefunden."

Lars staunte nicht schlecht. Damit hätte er wirklich nicht gerechnet. Und das Christian ihm das erzählt, hätte er erst Recht nicht erwartet. Aber sie waren hier in komischen Zeiten. Wahrscheinlich waren sie alle froh, wenn jemand da war, mit dem man reden konnte. Auch wenn es bei Christian und ihm eigentlich ziemlich komisch war. Aber gut. Verrückte Zeiten.

"Das tut mir Leid. Das kam aber ziemlich unerwartet jetzt."

"Ja, das stimmt. Aber es war eigentlich das, was ich wollte. Oder tun musste. Sonst wäre ich nicht glücklich geworden, hätten wir geheiratet. Und ich hoffe, dass ich mit einer bestimmten anderen Person glücklich werden kann. Aber es ist trotzdem gerade ziemlich schwer."

Lars nickte nur. Er wollte nicht weiter nachfragen. Wenn Christian noch mehr erzählen wollte, dann sollte er das von sich aus tun. Aber gleichzeitig dachte sich Lars, dass damit wohl schon wieder jemand mit Liebeskummer diesen Ort verlassen hatte, nämlich Christians ehemalige Verlobte. Und bei Kevin war es ja nicht anders. Und schon waren die Gedanken wieder zurück.

"Möchtest du auch etwas erzählen?", fragte Christian nach einer kurzen Pause. Vielleicht wollte er sich jetzt revanchieren. Aber Lars stellte fest, dass Christian gar nicht so unsympathisch ist, wenn es nicht um politische Inhalte ging. Das hätte er auch nicht gedacht. Aber ihm deshalb von der Situation berichten? Es wussten eh schon zu viele darüber Bescheid.

"Ich glaube, das muss ich mit mir selber ausmachen. Aber danke für das Angebot. Möchtest du wieder zurück? Oder soll ich dich noch etwas alleine lassen?". Lars wollte mittlerweile nur noch eine warme Dusche haben und zurück in sein Haus.

"Geh ruhig. Ich komme gleich nach."

Also stand Lars auf und ließ Christian alleine. Und war damit endgültig wieder auf dem Weg zurück. Und würde wahrscheinlich bald Kevin wieder begegnen. Vielleicht waren seine Gedanken und Gefühle dann etwas sortierter. Das Gespräch mit ihm müsste er bald sowieso nochmal suchen.

Christian hat es durchgezogen und vielleicht gibt es ja doch ansatzweise noch eine Lösung für die beiden Sozialdemokraten, wie auch immer diese aussehen könnte.

Und noch eine (mehr oder weniger eigennützige) Frage von mir (sofern ihr die beantworten wollt): Was macht ihr so, wenn ihr mal Ablenkung braucht? Ich brauche da mal ein wenig Inspiration momentan, wobei das Schreiben hier schon eine ganz gute Ablenkung ist, aber ja trotzdem ;)

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