Kapitel 11

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Tellus 2019:

Steve erstarrte für einen Moment, bis er sich halbwegs fasste und den schlampigen Kuss erwiderte. Oh Gott, was machte sie bloß da? Konnte ihr nichts Besseres einfallen, als diesem verliebten Jungen Hoffnungen zu machen? Lilliana würde sie hassen, wenn sie davon erfuhr. Doch während sie versuchte, den beißenden Geruch nach Schweiß, der von Steve ausging zu ignorieren, tastete sie möglichst unauffällig nach der Maus, um mit einem Klick die von ihr geöffnete Datei zu schließen.

Erleichtert stellte sie fest, dass Steve viel zu beschäftigt damit war, an ihren Lippen zu hängen, als irgendetwas zu bemerken. Übelkeit kroch in Lilly auf. Mit einem verlegenen Räuspern drückte sie ihn von sich weg. Benommen blinzelte Steve, wobei sein Hautton nun der roten Farbe seiner Haare glich. „Wow, Lilliana. Ich - ich - träume schon so lange von einem Kuss mit deiner Schönheit.", stammelte er überwältigt und sah sie mit verliebten Augen an. Er schien den Grund für Lillys Anwesenheit völlig vergessen zu haben.

Lillys Lachen war schrill vor Panik. „War wohl ein Missverständnis, ich will dich nicht länger stören.", sagte Lilly schnell, bevor sie an ihm vorbei aus der Tür eilte und hastig in den Fahrstuhl rannte.

Im Fahrstuhl angekommen warf sie frustriert den Kopf in die Hände. Sie versuchte einen klaren Gedanken zu fassen und den außerordentlich peinlichen Vorfall mit Steve dabei zu ignorieren. Eine ganze Stunde Videomaterial fehlte in den Aufzeichnungen des Überwachungsraum. Wie konnte es sein? War das alles also doch nicht ein böser Schicksalsschlag des Universums? Steckte da tatsächlich ein Mensch dahinter? Aber welcher Mensch besaß die Fähigkeit, zwischen den Universen zu wandern und dabei zwei Varianten der selben Person auszutauschen?

Lilly brummte der Kopf, als sich die Türen des Fahrstuhls öffneten. Sie hatte auf Antworten gehofft. Vielleicht war es ziemlich naiv, aber Lilly hatte ernsthaft geglaubt, dass sie nur einen Knopf zu drücken hatte, um wieder nach Hause zu gelangen. Dass da jemand, aus was für einem unerklärlichen Grund auch immer, dahinter steckte, jagte ihr so große Angst ein, dass sie fast zu ersticken drohte. Vielleicht hatte William ja eine Ahnung, was sie nun zu tun hatten.

William. Seit dem Kuss mit Steve hatte sie seine leitende Stimme in ihrem Ohr nicht mehr gehört. Auch jetzt, da sie wieder alleine war, hörte sie ihn nicht durch den Chip. Und Lilly war die ganze Sache auch so unangenehm, dass sie nicht nach ihm fragte. Sie würde ihm eh gleich wieder begegnen und irgendeine dumme Rechtfertigung ablegen müssen.

Angespannt lief sie den, zu ihrem Glück, noch leeren Gang entlang, wobei die grellen LED-Lichter das Dröhnen in ihrem Kopf nur verstärkten, und blieb schließlich vor Lillianas Zimmer stehen. An ihrer Tür prangte die Nummer 427 , die sie bedrohlich anzustarren schien. Gerade, als Lilly die Türklinke hinunterdrücken wollte, wurde die Tür plötzlich aufgerissen.

Fassungslos starrte William sie an. Augenblicklich spürte Lilly die Hitze in ihren Wangen aufsteigen. „Ähm, also, ich -", stammelte Lilly vor sich hin, doch William brachte sie mit einem eindringlichen Blick zum Schweigen. „Die Überwachungskameras. Steve beobachtet uns höchstwahrscheinlich gerade." Er schien keinen einzigen Muskel beim Sprechen zu bewegen und trat bloß einen Schritt zurück, um Lilly Einlass zu gewähren. Lilly spürte ein Brennen im Hinterkopf, als sie an die Kamera dachte, die an der Decke hinter ihr angebracht war und jeden Schritt von ihr verfolgte. Unbehaglich trat sie in das Zimmer und schloss schnell die Tür hinter sich.

Einen Moment lang, der sich für Lilly anfühlte wie eine ganze Ewigkeit, standen sie sich peinlich berührt gegenüber, wobei Lilly versuchte seinem Blick auszuweichen. William räusperte sich. „Ein guter Schachzug, Anderson. Eine ausgesprochen effektive Art, um Steve abzulenken und die Datei zu schließen.", unterbrach er schließlich die Stille mit einem kühlen Unterton, doch schien das Gesagte ernst zu meinen.

EchoesWhere stories live. Discover now