Kapitel 22

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Erde 2019

Lilliana fiel auf die Knie, doch vom eigentlich harten Aufprall spürte sie nichts. Der Aufprall war jedoch auch das einzige an der Astralreise, das sich nicht real anfühlte.

Mühsam rappelte sich Lilliana auf und stockte. Sie befand sich inmitten eines Ozeans aus obsidianschwarzem Sand, der sich bis zum Horizont erstreckte. Düstere Dünen reichten in der Ferne bis zu den blutroten Wolken, die wie Rubine im Onyx farbenen Himmel hervorstachen. Als Lilliana den Himmel näher betrachtete, bemerkte sie zickzackförmige Risse zwischen den schweren Wolken, deren Farbe die von Amethysten ähnelte.

Die Wüste entsprach ihrer Vorstellungen einer Hölle. Doch obwohl sie eine Hitze erwartet hatte, ließen eisige Windzüge ihre Arme erzittern. Es schien, als hätten die nachtschwarzen Sandkörner jedes bisschen Wärme aufgesogen.

Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Sie hatte noch nie einen Ort auf Tellus gesehen, der mit diesem vergleichbar wäre. Jedoch war sie sich sicher, dass es geklappt hatte: Es war der Ort, den sie auf dem Dach des Gebäudes gegenüber der Brooklyn High gesehen hatte. Sie musste nur das Portal, die undichte Stelle, finden, die sie dahin führen würde. Auch wenn sie sich nicht ausmalen konnte, wo die Stelle sein könnte. Denn überall, wohin sie auch schaute, war Sand, Sand und noch mehr Sand.

Konzentriert schloss Lilliana die Augen und atmete tief ein, wobei sie die Luft nicht spürte, die durch ihre Lungen floss. Entschlossen holte sie den blauen Jeansfaden hervor, der sie mit Will verband. Auch wenn diese Verbindung nur noch im symbolischen Sinn aufrechterhalten wurde, da Will den Faden durchtrennen musste. Schließlich wartete er nicht wie beim letzten Mal mit ihr im leer stehenden Lager auf sie, in das Dr. Hernandez ihr selbstgebasteltes Labor versteckte.

Nein, Will wartete auf dem Dach gegenüber der Brooklyn High darauf, dass die undichte Stelle wieder erscheinen würde.

Will, Will, Will.

Mit neu gewonnener Willenskraft lief sie los. Sie würde Will finden. Obwohl sie aufgrund des Meter hohen Sandes, der ihre Beine mit jedem Schritt zu verschlucken drohte, und der Atmosphäre, die sich wie dicke Watte um sie schmiegte, nur langsam vorankam, war sie entschlossen, nicht stehen zu bleiben.

Sie steuerte auf eine gigantische, steil hoch laufende Düne zu, die ihr ganzes Blickfeld einnahm. Mit jedem Schritt, dem sie sich der Düne näherte, brannten ihre Augen wie als hätten sie Feuer gefangen. Angestrengt blinzelte Lilliana. Erst dann nahm sie den furchtbaren Geruch wahr, der ihre Nasenflügel zum Zittern brachte. Für den Bruchteil einer Sekunde hielt Lilliana inne.

Schwefel. Beißender Schwefel drohte ihre Luftröhren zu verätzen.

Lilliana schloss ihre Hände zu Fäusten um den Faden. Nicht real. Es war nicht real. Ihrem Körper konnte auf der Astralebene nichts widerfahren. Mit zusammengebissenen Zähnen lief sie nun schneller, versuchte möglichst wenig zu atmen, während ihre Organe brannten, kreischten.

Doch nicht der Schwefel war es, der sie zu tiefst beunruhigte. Es war das ohrenbetäubende Zischen, das hinter der Düne erklang. Ein Zischen, das ihr mehr als nur vertraut war. Und obwohl Lilliana wusste, was sie hinter der Düne erwartete, brachte sie dies nicht vom Kurs ab. Mit einem leisen Seufzer erreichte Lilliana schließlich die Düne, die sie an einen großen schwarzen Felsenbrocken erinnerte.

Sie bückte sich, um eine handvoll Sand zwischen ihre Finger gleiten zu lassen. Er war überraschend fest und so kalt wie Schnee, weshalb sie davon ausging, dass die Düne stabil genug war, um sie zu erklimmen. Instinktiv zückte sie ihren Dolch aus der Scheide, während sie mit der anderen Hand den Faden weiterhin umschlossen hielt, und stieg die spitz zulaufende Düne hoch.

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