Kapitel 10

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Tellus 1987

„Alastor, mein Sohn. Bitte stell dich nicht so nah ans Fenster. Wir wissen ja noch gar nicht, was für Auswirkungen das haben kann und ob die Fensterscheiben uns wirklich von der Außenwelt abschirmen können.", bat die Mutter ihren mittlerweile jugendlichen Sohn mit einer kratzigen Stimme, die jeden Moment zu brechen drohte.

Doch Alastor starrte nach draußen und rührte sich nicht vom Fleck. Mit einem kühlen Blick betrachtete er das Chaos, das sich vor seinen Augen und auf aller Welt abspielte. Menschen, die mit einer Decke über den Kopf oder mit einem Tuch ums Gesicht gewickelt von einem Gebäude zum anderen panisch hin und her rannten. Verlassene Autos, die quer mitten auf der Straße stehen geblieben waren, als wären die Besitzer während der Fahrt in Luft aufgelöst. Schwere schwarze Vorhänge, die Alastor eine Einsicht in die zahlreichen Wohngebäude verwehrten. Fast hätte Alastor bei diesem Anblick gelacht. Nichtsnutzige Menschen, die tatsächlich dachten, dass sie irgendwelche Tücher, Decken oder Vorhänge jetzt noch schützen konnten.

Ein bitterer Geschmack keimte in seinem Mund auf, als er den roten Himmel sah. Nichts ließ heute noch darauf hindeuten, dass er einst unter einem strahlend blauen Sommerhimmel die Hügel in ihrem Garten lachend, mit seinem Vater an der Hand, hinuntergerannt war. Nein, er lebte nun in einem mit Blut durchtränkten Meer, das ihn jede Zeit zu ertränken drohte. Und nicht einmal sein Vater war noch da, um ihn davor zu bewahren.

Das übliche Stechen in seiner Brust, das aufkam, sobald Alastor an seinen Vater dachte, nahm er nun nur noch gedämpft war. Nur wage erinnerte er sich noch an den Tag, als seine Mutter in Tränen ausgebrochen ihm mitteilte, dass Vater nicht mehr nach Hause kommen würde. Auch wenn dieser Tag erst vor wenigen Jahren stattgefunden hatte, schien jede Zelle seines Körpers diese Erinnerung, die Gewissheit, nun vollkommen alleine dazustehen, von sich stoßen zu wollen. Stattdessen beschwor er die Erinnerungen an die zahlreichen Tage herauf, in denen er auf den Schultern seines Vaters sitzend die grünen Baumkronen fasziniert beobachtet hatte, während der Vater die Hügel hinuntergerannt war.

Doch auch von den smaragdgrünen Bäumen und Wiesen war heute nichts mehr zu sehen. Angespannt blickte er zum abgestorbenen, gelblich verfärbten Rasen, der sich in ihrem Vorgarten befand und einst einladend gewirkt hatte. Wie konnte ein ganzer Planet so rasant und so plötzlich in den Abgrund stürzen?

Alastor ballte die Hände zu Fäusten, sodass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Er konnte nicht fassen, dass noch kein einziger Forscher auf der Welt die Ursache für die plötzliche Verseuchung ergründen konnte, geschweige denn eine Lösung finden konnte. Wie lange sollten sich die Menschen noch panisch in ihren eigenen vier Wänden isolieren und auf die Hoffnung beharren, dass die dünnen Wände sie tatsächlich schützen konnten? Und dabei komplett außer Acht ließen, dass sie langsam, aber sicher verhungerten, weil nun auch große Teile der Ernte ausfielen, da der Boden nun auch von der Verseuchung betroffen war.

„Alastor.", ertönte erneut die schwache Stimme seiner Mutter. Widerwillig drehte sich Alastor dieses Mal um, wobei er versuchte, die rot unterlaufenen Augen und die unzähligen Verätzungen an ihren Armen zu ignorieren. „Dein Vater ... er war ein Held." Sie wurde von einem trockenen Husten unterbrochen und als sie sich wieder beruhigte, konnte Alastor den schmalen Blutfaden, der aus ihren brüchigen Lippen hervortrat, nicht mehr übersehen. „Aber er hat diese Welt verlassen. Nun liegt es an dir, seine Rolle zu übernehmen, mein Sohn. Werde ein Held, Ikarus.", fuhr sie mit einem bettelnden Ausdruck im fahlen Gesicht fort.

Die Zähne zusammenbeißend wurde Alastor rasend vor Zorn. „Nenn mich nie wieder Ikarus.", knurrte er und setzte eine verabscheuende Miene auf, als seine Mutter zusammenzuckte, bevor er ihr wieder den Rücken zukehrte. „Nur Vater nannte mich so.", fügte er hinzu, wobei man förmlich die Bitterkeit in seiner Stimme hören konnte.

Gleichzeitig fragte er sich, ob sie wohl wusste, was der wahre Grund hinter seiner Abneigung gegen diesen Namen war. Ikarus war gefallen. In seiner Naivität und seinem Übermut war Ikarus so hoch hinauf geflogen, dass die Sonne das Wachs seiner Flügel schmelzen gelassen hatte, was zu seinem tiefen Fall in das dunkle Meer geführt hatte. Alastor jedoch würde nicht stürzen. Er würde nicht fallen, wie es sein Vater getan hatte. Er würde nicht im blutroten Meer ertrinken, während die Welt niederging.

Keiner wusste, wie er mit der Apokalypse umzugehen hatte. Die Welt brauchte mehr Soldaten denn je, doch Alastor würde trotz der Bitte seiner Mutter kein Soldat werden.

Nein, er würde das Wachs der Flügel durch unzerstörbaren Stahl ersetzen und hoch hinauf zur Sonne fliegen, um die Welt zu retten.

*****

Das zweite Kapitel des Antagonisten. Jetzt haben wir auch seinen Namen erfahren ;) Was haltet ihr bisher von Alastor?

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