Kapitel 3

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Tellus 2019:

Entsetzt erkannte sie nun die Stimme, die so vertraut und doch so fremd war. „Will?"

Schlagartig hielt er inne. Für einen Moment war nur Lillys stoßartige Atmung zu hören. Dass ihr Kopf schmerzlich durch den Aufprall gegen die Wand pochte, blendete sie vollkommen aus. Sie war fest entschlossen, Wills Stimme erkannt zu haben, auch wenn sie tiefer und ohne jegliche Leichtigkeit war, die sonst stets in Wills Stimme schwang. Zwar hatte sie sein Gesicht nicht vollständig erkennen können, da er es auf irgendeiner ihr unbekannten Art und Weise geschafft hatte, sie im Bruchteil einer Sekunde umzudrehen und gegen die Wand zu stoßen, während er ihre Hände fest hinter ihrem Rücken umfasste. Dennoch meinte sie dunkle nach hinten gebundene Locken erkannt zu haben. Wills Locken.

Und genau aus diesem Grund war sie überzeugt davon, dass sie sich in einem Traum befand. In einem ziemlich absurden Traum. Warum sollte Will sie sonst an einem durchaus beängstigenden Ort wie diesem hier entführen? Wie hätte es Will im realen Leben schaffen sollen, so zu kämpfen und nicht einmal dabei zu stolpern? Außerdem war sie sich sicher, dass Will niemals ihre stumme Vereinbarung brechen würde, den anderen niemals beim ganzen Vornamen zu nennen. Deshalb konnte es keine andere Erklärung für diese ganze Situation geben, als dass sie schlicht und einfach nicht real war.

Allerdings konnte Lilly die Tatsache nicht leugnen, dass ihr Kopf unfassbar schmerzte. Und dass die harte Brust, die sich gegen ihren Rücken presste, sich ganz und gar real anfühlte.

Plötzlich drehte er sie mit einem Schwung um, ohne jedoch ihre Hände zu befreien. Entgeistert starrten sie sich nun zum ersten Mal in die Augen. Bei seinem Anblick spürte Lilly den Schwindel in ihr aufkommen. Vor ihr stand ein heranwachsender junger Mann, der zwar die selben haselnussbraunen Augen hatte wie ihr bester Freund, der aber definitiv nicht ihr Freund war. Eine verheilte Narbe durchzog seine rechte Augenbraue. Seine Wangenknochen saßen höher und sein Kiefer war angespannt. Während Will, der Will, den sie schon fast ihr ganzes Leben lang kannte, ständig einen freundlichen Ausdruck hatte, war nichts davon im Gesicht ihres Gegenübers zu sehen. Stattdessen schien er viel härtere und strengere Züge zu haben.

Das hier war Will. Aber er war es auch nicht. Und diese Mischung aus Wiedererkennen und Befremdung war auch in Williams Augen zu erkennen. Fassungslos blickte er abwechselnd in ihre Augen und zu ihren pfirsichblonden Haaren, die in allen Richtungen abstanden.

Skeptisch wich er einen Schritt zurück und lockerte den Griff um ihre Hände. „Du bist nicht Lilliana.", stellte er verwirrt fest und sah sie prüfend an. „Und doch ..." Er ließ den Satz unbeendet, doch Lilly verstand ihn trotz dessen.

„Hör zu, ich - ich weiß nicht, was hier los ist. Ich bin wie jeden Abend in meinem Bett eingeschlafen und ich weiß nicht, wie es passieren konnte, dass ich dann an einem so unheimlichen Ort aufwache. Und ich weiß nicht, ob Will einen Zwilling hat, von dem ich nichts weiß, oder das alles nur ein seltsamer Zufall ist. Vielleicht träume ich ja auch, ich weiß es nicht. Ich will einfach nur nach Hause." Zum Ende hin wurde Lilly leise und ihre Stimme klang weinerlich und verzweifelt. Kurz schloss sie ihre Augen mit der Hoffnung aufzuwachen, doch nichts dergleichen geschah.

Nun ließ er ihre Hände frei. Grübelnd sah er sie an. Sie sah, dass er eine logische Erklärung zu finden suchte, doch sie bezweifelte, dass es eine gab. „Wie ist dein Name?", fragte er dann.

„Lilly. Ich heiße Lilly." „Nicht Lilliana?" Verzweifelt rieb sie sich die schmerzenden Handgelenke. „Nun ja, doch, aber keine Menschenseele nennt mich Lilliana." Er wich noch einen Schritt zurück, um sie von oben bis unten zu betrachten. Errötend zupfte sich Lilly ihr rosafarbenes Schlafhemd zurecht. Dann versuchte sie sich jedoch zu sagen, dass sie gerade erst aufgewacht war, in einem fremden Raum, und dass es nun wirklich keine Rolle spielte, was sie trug. Auch wenn die vor ihr stehende Person eine schwarze Kampfmontur trug, die mehrere Schnallen mit verschiedenen, daran befestigten Waffen um die trainierten Oberschenkel enthielt. Die Waffen beunruhigten sie, weshalb sie versuchte den Blick abzuwenden.

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