Kapitel 5

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Tellus 1980

„Dad, ich fliege! Ich fliege!", kreischte der kleine Junge, der auf den Schultern seines Vaters saß. Fest klammerte er sich an seine blonden Haaren, während sein Vater ihn umherwirbelte und den grünen Hügel hinunterrannte.

Die Sonne strahlte angenehm warm auf seinen Kopf und der starke Wind ließ seine Haare umher wehen. Er war frei. Vollkommen frei. Auf den Schultern seines Vaters war er der König der Welt. Niemand auf ganz Tellus hatte es jemals geschafft, so weit über den Boden zu schweben, da war er sich sicher. Mit funkelnden Augen blickte er hoch zu den dichten Baumkronen, die er ganz sicher auch eines Tages erreichen würde. Mit seinem Dad würde er nämlich alles erreichen, das hatte er ihm schließlich auch versichert.

„Du bist mein Held, Dad.", wisperte er ihm ins Ohr und meinte das auch so, denn sein Vater war sein absolutes Vorbild. Wenn er einmal groß wurde, würde er genauso ein Held werden wie sein Vater. Er würde die Welt retten, auch wenn er sich gar nicht ausmalen konnte, wovor die Welt denn gerettet werden musste. Denn in diesem Moment schien alles perfekt und friedlich. Mit seinem Vater an der Seite hatte er keine Sorgen.

Herzlich lachte der Vater und rannte nun schneller, wobei der Junge sich ein erfreutes Aufschreien nicht verkneifen konnte. „Und du bist mein Held, mein kleiner Ikarus."

Grinsend streckte der Junge seine Hände nach der strahlend weißen Sonne aus. Der blaue wolkenlose Himmel erstreckte sich über ihn wie ein weites Meer und erschien so nah und erreichbar. Eines Tages würde er zur Sonne fliegen, wie Ikarus es einst mit seinen Flügeln aus Wachs getan hatte, um dem Labyrinth zu entfliehen. Und da der Junge stets das Gefühl hatte, fliegen zu können, höher als es je jemand geschafft hatte, war Ikarus sein Spitzname geworden.

Enttäuscht ließ er zu, dass sein Vater ihn auf dem hohen Gras absetzte, in welchem seine Füße beinahe verschwanden. Seiner Mutter, die einige Meter abseits an der Terrassentür ihres bescheidenen Hauses mit seltsamen Ausdruck stehen geblieben war und ihren Sohn und Ehemann wie versteinert beobachtete, schenkte er nur wenig Beachtung. Stattdessen sah er in die lächelnden Augen seines Vaters, der sich zu ihm gekniet hatte, um auf einer Augenhöhe mit ihm zu sein.

„Du kannst alles erreichen, mein Junge.", sagte er und fuhr ihm liebevoll durch die Haare. „Nun geh zu Mommy. Sie wartet bereits auf dich. Daddy muss jetzt gehen."

Bestürzt schritt der Junge einen Schritt zurück. Er blickte zu der Uniform, die seinen Vater übermächtig erschienen ließ. „Keine Sorge, Ikarus. Schon bald werde ich zurück sein."

Mit diesen Worten schritt er zunächst zu seiner Mutter, um ihr einen kurzen Kuss auf die Stirn zu drücken, und dann davon.

Allein. Er war so furchtbar allein.

Dies war nicht das letzte Mal gewesen, dass er seinen Vater gesehen hatte. In den nächsten Jahren sah er ihn jedoch immer seltener, bis er irgendwann, Jahre später, gar nicht mehr nach Hause kam. Dennoch hatte sich diese Erinnerung am eindringlichsten in seinem Kopf geprägt und er klammerte sich an sie, als hinge sein Leben daran.


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Das erste "Villain"-Kapitel ;) Den nächsten Teil lade ich übermorgen hoch!

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