Großer Bruder - Kleiner Bruder

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Dunkelheit. Ein endloses Meer aus Einsamkeit und Ruhe erstreckt sich vor dem inneren Auge von Zeldris. An seinem Hals fühlt er ein unangenehmes ziehen. Durch seine Ohren dringt eine sanfte, fremde Stimme. „Das war der letzte Faden. Seine Wunden sind gut verheilt." Langsam kommt er wieder zu sich und das erste was er sieht, sind ein paar große, blaue Augen. Natalia kniet neben einem Bett und betrachtet ihn sorgenvoll. „Bin ich erleichtert, dass du aufgewacht bist. Du warst eine Woche lang bewusstlos." Sie taucht ein weiches Tuch in eine Schüssel mit warmen Wasser und will die letzten Reste vom getrockneten Blut an seinem Hals wegwischen. Sofort bleckt der jüngere Dämon die Zähne und gibt ihr zu verstehen, dass sie ihn nicht anfassen soll. „Ich an deiner Stelle, würde es einfach über mich ergehen lassen. Mich hat sie damals auch nicht in Ruhe gelassen." Nun lenkt er seinen Blick durch den Raum und entdeckt Estarossa, der auf einem Stuhl sitzt und ihn grimmig anschaut. „Du solltest Natalia wirklich dankbar sein. Immerhin hat sie mich davon abgehalten, dich tot zu beißen." Widerwillig, lässt er sich dann doch von ihr waschen und starrt dabei wortlos an die Decke. „Estarossa...warum hast du mich angelogen?" Sein älterer Bruder ist über diese Frage nicht verwundert. „Weil ich wusste, dass du so reagieren würdest. Ich wollte dich beschützen und dir das alles ersparen." Mit dieser Antwort, scheint Zeldris nicht gerade zufrieden zu sein. Dennoch gibt er keine weiteren Widerworte von sich. Nachdem die Farmerin fertig ist, schenkt sie ihm ein liebevolles Lächeln. „Ach...du musst sicher furchtbar hungrig sein...ich geh dir schnell etwas holen."

Absolut verwirrt über die Freundlichkeit dieser Frau, bringt Zeldris keinen einzigen Ton heraus. Obwohl er versucht hat sie umzubringen, hat sie ihn gesund gepflegt und seine Wunden gereinigt. „Schau nicht so dumm. Ich hab irgendwann aufgehört zu versuchen, sie zu verstehen." Es ist nun einmal Tatsache, dass weder der eine, noch der andere, am Anfang solche Freundlichkeit kannten. Plötzlich zuckt seine Nase und einen Moment später, kommt Natalia mit einem Teller voller Fleisch herein. Wie auf ein Kommando, fängt sein Magen an zu randalieren, weshalb er ihr den Teller gierig aus der Hand reißt und das Fleisch in sich schlingt. „Iss bitte langsam...du bekommst sonst böse Bauchschmerzen." Für einen Moment hält er inne und sieht Estarossa aus dem Augenwinkel grinsen. Anscheinend hat er diesen Spruch auch schon zu hören bekommen. Nachdem er fertig ist mit essen, lässt er sich wieder ins Kissen fallen und stöhnt einmal ziemlich laut. „Schön, dass es dir besser geht." Die Farmerin nimmt den leeren Teller an sich. „Ich muss wieder auf die Weide. Fühl dich ganz wie Zuhause." Dann geht sie und lässt die beiden Dämonenbrüder alleine. „Hey...wo genau sind wir eigentlich?" Noch immer, schaut Estarossa ihn grimmig an. „Auf einer Farm in Alondara. Ich habe keine Ahnung, wie du mich gefunden hast und ehrlich gesagt, interessiert es mich auch nicht." Nun steht der Dämon auf. „Aber wenn du sie nochmal anfällst, werde ich dir diesmal wirklich den Kopf abreißen." Danach verlässt Estarossa den Raum und lässt seinen Bruder alleine. Nun versucht er noch ein bisschen zu schlafen, doch das könnte sich als schwierig gestalten, da er einen leichten Druck auf der Brust spürt. Zeldris öffnet die Augen wieder und starrt in ein bernsteinfarbenes Augenpaar. Molly hat sich auf ihn gesetzt und sie scheint durch ihn hindurch zu blicken. Ganz so, als ob sie versuchen würde, das tiefste innere seiner Seele zu erspähen. Zeldris bekommt eine Gänsehaut. Diese Katze hat etwas unheimliches an sich. Eigentlich hofft er, dass sie schnell wieder das Interesse an ihm verliert und einfach geht. Doch diese Hoffnung wird wenige Sekunden später zunichte gemacht. Denn anstatt zu gehen, legt sie sich nun hin und starrt ihn unentwegt an.

Irgendwann ist er dann doch eingeschlafen und wacht erst am Abend wieder auf. Die blaugraue Kätzin ist nicht mehr da, weshalb sich der jüngere Dämon endlich aufrichten kann. Für ein paar Minuten bleibt er einfach so sitzen, doch dann steht er schließlich langsam auf und torkelt aus dem Zimmer. Genau wie Estarossa damals, kommt er am Spiegel im Flur vorbei und betrachtet sich in seiner Oberfläche. An seiner Kehle ist eine hässliche Narbe zurückgeblieben. Er streicht einmal darüber und verzieht das Gesicht. Es schmerzt noch ein bisschen, doch dann reißt Hannah ihn aus den Gedanken. „Na sieh mal einer an. Das Smaragdäugchen ist von den Toten auferstanden." Sofort fängt er an zu knurren und bleckt die Zähne. „Pah...du brauchst dich gar nicht so aufzublasen, Freundchen. Du bist kein Stück besser als das Silberlöckchen. Im Gegensatz zu Natalia habe ich nämlich gehofft, dass du ins Gras gebissen hast." Sie verschränkt die Arme und lässt ihn nicht zu Wort kommen. „Aber das ist jetzt auch egal. Beweg deinen Arsch die Treppe runter und setz dich an den Tisch. Wir essen gerade." Zeldris schaut sie mit einem überraschten Blick an und ist absolut sprachlos. Er kann nicht glauben, dass ein Mensch so respektlos mit ihm spricht. Er fletscht die Zähne und lässt Hannah wissen, dass sie vorsichtig sein soll mit dem, was sie sagt. „Deine Beißerchen beeindrucken mich kein bisschen, Smaragdäugchen. Das hat das Silberlöckchen schon immer wieder bei mir probiert." Sie deutet auf die Treppe. Ohne weitere Worte, geht sie hinunter und setzt sich wieder. Für einen Moment zögert der jüngere Dämon, doch dann folgt er ihr schließlich.

Auf dem Weg an den Esstisch, strömt ihm ein köstlicher Duft von Frischfleisch in die Nase. Natalia sieht auf und wirft ihm einen warmen Blick zu. „Schön, dass du uns Gesellschaft leistest. Du hast so schön geschlafen, da wollte ich dich nicht aufwecken. Komm...setz dich. Ich bring dir was zu essen." Sein Blick fällt auf Estarossa, der munter auf einem Stück Fleisch herumkaut. Schließlich überwindet er seinen Stolz und setzt sich schweigend an den Tisch. Natalia stellt ihm einen Teller hin, der mit Fleisch, Fisch und gekochten Eiern bestückt ist. Außerdem schenkt sie ihm noch ein Glas voller Blut ein. Inzwischen hebt sie das auch für Estarossa im Kühlschrank auf. Der Blick von Zeldris gleitet einmal durch die Runde und bleibt schließlich an Xander kleben. Zwischen ihm und Estarossa herrscht wirklich eine unverwechselbare Ähnlichkeit. Der kleine Halbdämon sieht aus wie sein Vater, als dieser noch ein Kind war. Nun bemerkt Xander den Blick von seinem unheimlichen Onkel und rückt näher an seinen Papa heran, um sich dort bei ihm zu verstecken. Da wuschelt ihm Estarossa einmal durch die Haare. „Vor dem brauchst du keine Angst zu haben, Kleiner. Nachdem ich ihm einen Denkzettel verpasst habe, sollte er eigentlich keine Gefahr mehr darstellen. Nicht wahr, Zeldris?" Daraufhin antwortet dieser mit einem bedrohlichen, tiefen knurren aus seiner Kehle. „Überleg dir besser zweimal was du machst, kleiner Bruder. Am Ende hau ich dir sonst doch noch die Zähne aus dem Gesicht."

Ohne weitere Auseinandersetzungen, hat Zeldris zuerst den Tisch verlassen und ist nach draußen gegangen, um sich dort erst einmal gründlich umzusehen. Die pure Schönheit der Farm und das ruhige Leben auf dem Land überwältigen ihn. Eigentlich ist der jüngere Dämon das heikle Leben in der Stadt gewohnt, doch dieser Ort wirkt auf ihn wie ein ruhiger, botanischer Garten. Obwohl die Sonne schon langsam untergeht, liegen vereinzelt noch ein paar Tiere auf der Weide herum und genießen die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Plötzlich vernimmt er ein Geräusch hinter sich und er wirbelt zähnefletschend herum. Doch als er Natalia erblickt, löst er seine Drohgeste wieder. Ihr Blick ist im ersten Moment erschrocken, doch einen Moment später, entspannt sie sich wieder. „Unser erster Aufeinandertreffen war wohl nicht besonders schön gewesen. Es war nicht richtig, dass Estarossa dir das alles hier verheimlicht hat." Sie faltet die Hände unter dem Bauch und lächelt ihn warm an. „Du musst nicht wieder gehen. Du kannst hier bleiben, solange du willst." Auf einmal nimmt das Gesicht des Dämons eine erstaunte und zugleich abwehrende Mimik an. Nun geht er einen Schritt auf sie zu und spürt den Blick Estarossas im Nacken brennen. „...Wieso machst du das? Wieso bist du so nett zu mir, obwohl ich dich umbringen wollte?" Insgeheim hat Natalia mit dieser Frage schon gerechnet und dachte eigentlich, dass sie viel eher kommt. Doch anstatt ihm direkt zu antworten, stellt sie ihm ebenfalls eine Frage. „...Hast du nicht auch ein Recht darauf glücklich zu sein und ein schönes Leben zu führen?" Diese Antwort überrascht ihn. So sehr, dass Zeldris einen Moment lang überlegen muss, was er darauf erwidert.

Gerade will er den Mund aufmachen und etwas sagen, als sein älterer Bruder herbei kommt und Anunnaki auf dem Arm trägt. „...Zwei...?" Estarossa grinst ihn an und zeigt ihm voller Stolz seine kleine Tochter. Xander hat Molly auf dem Arm und beobachtet die kleine Gruppe aus der Ferne. „Meinen Sohn kennst du ja schon. Jetzt lernst du meine Tochter kennen", sagt Estarossa. Obwohl Anunnaki auch Dämonenblut in sich trägt, sieht sie mehr ihrer Mutter ähnlich. Doch nun richtet Zeldris seinen Blick auf seinen älteren Bruder. „...Wir müssen reden...und zwar unter vier Augen..." Er nickt darauf und gibt der Farmerin ihre Tochter auf den Arm. „Das könnte ein bisschen dauern, Natalia. Du solltest schon einmal ins Haus zurückgehen." Ihm entgeht ihr sorgenvoller Blick nicht. „Bitte...versucht nicht wieder euch gegenseitig umzubringen. Das hat mir wirklich Angst gemacht." Sanft streichelt er ihr über das Gesicht. „Keine Angst...wenn er wieder das randalieren anfängt, schlag ich ihn vorher tot oder ertränke ihn im Fluss." Diese Aussage lässt seinen jüngeren Bruder grinsen und schließlich spannen beide ihre Flügel auf und suchen sich einen ruhigen Ort, wo sie sich aussprechen können. „Vielleicht ist es ein Fehler gewesen dir zu verschweigen, wohin ich gehe. Allerdings habe ich geahnt, dass du wütend sein wirst. Sprich dich also aus, Bruderherz." Estarossa rechnet mit einer zornigen Reaktion seines kleinen Bruders, doch erstaunlicherweise, reagiert Zeldris ganz anders. Er betrachtet ihn ruhig und wendet dann den Blick ab, um zu Natalia zu sehen, die gerade wieder ins Haus zurückgeht.

„Ich verstehe diese Frau einfach nicht. Obwohl ich versucht habe sie zu verletzen...sie zu töten...begegnet sie mir mit einem offenen Herzen voller Freundlichkeit. Sie erinnert mich so sehr an..." Estarossa schneidet ihm das Wort ab. „An Gelda?" Auf einmal verfinstert sich das Gesicht des älteren Dämons. „Du musst lernen endlich loszulassen, Zeldris. Das habe ich auch getan, nachdem meine Liebe im Krieg gefallen ist. Gelda ist tot und wird nicht wieder zurückkommen." Estarossa klopft ihm einmal gegen die Brust. „Ich weiß, dass sie ein Mensch ist. Sie wird alt werden und sterben, während ich in alle Ewigkeit weiterleben werde. Dennoch hat sie mir zwei Kinder geboren, die mich ein Leben lang begleiten werden." Der Dämon stöhnt einmal leise auf. „Glaube mir, Zeldris...ich habe öfter wie einmal versucht Natalia umzubringen und dennoch hat sie nicht aufgehört an mich zu glauben." Er stöhnt einmal tief und setzt sich nun auf den Ast des Baumes. „In Ordnung...ich werde dir erzählen, was damals passiert ist." Stundenlang sitzt Zeldris einfach nur da und hört seinem Bruder zu. Er hört sich an, wie Natalia ihn aus dem Wald gezogen und gesund gepflegt hat, der feige Angriff von Antonio und wie er nach Jahren wieder zur Laochi-Farm zurückgekommen ist. Der Dämon hat die Augen geschlossen und öffnet sie erst wieder, nachdem Estarossa mit seinen Erzählungen fertig ist. „...Und sie hatte wirklich keine Angst vor dir?" Er schüttelt den Kopf. „Kein bisschen." Dieser Gedanke bringt Zeldris einfach zum lachen. „Ein Mensch der keine Angst vor Dämonen hat...unglaublich..." Die Sonne ist schon untergegangen und aus der Ferne kommt Hannah an gestampft. „Silberlöckchen! Smaragdäugchen! Habt ihr Wurzeln geschlagen oder schlaft ihr heute draußen?" Da sieht Estarossa zu ihr herunter und grinst. „Keine schlechte Idee, Goldfasan. Dann kann ich heute Nacht endlich wieder in Ruhe schlafen." Hannah erwidert sein breites grinsen und zeigt ihm lediglich den Mittelfinger. Sie wendet sich dann wieder ab und will zurück ins Haus. „Komm, Zeldris...wir ärgern den Goldfasan ein bisschen." Sie spannen ihre Flügel auf und zischen schnell zum Haus zurück, um ihr vor der Nase die Tür zuzuschlagen und abzuschließen. „Lasst mich sofort wieder rein, ihr zwei Knallfrösche oder es gibt saures", flucht Hannah, während sie die beiden hinter der Tür lachen hört. „Verdient, Goldfasan...absolut verdient", lacht Estarossa. Seine Schadenfreude steigt nochmal an, als Hannah hinter der Tür komplett ausflippt. „Es ist mir scheißegal was Natalia sagt, ihr zwei Vollidioten seid abgrundtief böse und irgendwann werde ich euch beide im Schlaf umbringen", faucht sie. Der Dämon lacht noch einmal auf. „Schlafen ist eine hervorragende Idee. Also dann...gute Nacht, Goldfasan!"


Mein Freund, der DämonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt