Die Stadt des Windes

123 10 4
                                    

Estarossa spaziert durch die Stadt, erkundet die Umgebung und beobachtet jede Bewegung, die ihm selbst im Augenwinkel auffallen. Ein Gebäude reiht sich an das andere, wobei keines dem anderen gleicht. Es scheint, dass ein Haus das andere mit seinen prächtigen Dächern, den exotischen Farben, oder seiner imposanten Größe verdrängen will. Eine Straße weiter, erklingt der dumpfe Klang eines Eisenschmieds, wenn er seinen schweren Hammer auf glühendes Metall niederschlägt. Die fliegenden Funken, der schwefelartige Geruch und das zischen von Wasser, hatte viele Schaulustige angezogen. Estarossa riskiert einen Blick und kommt näher. Verschiedene Waren, wie Hufeisenglücksbringer, Trinkbecher oder Anhänger liegen auf einem Podest zum Verkauf bereit. Exzellente Arbeiten, wie sein scharfsichtiges Auge feststellen konnte. Dieser Schmied versteht etwas von seinem Beruf. Doch so schnell sein Interesse auch gekommen war, verflog es auch wieder. Gerade auf dem Marktplatz ist die Hölle los. Der Dämon schnauft einmal belustigt, da der eine Händler dem anderen das Geschäft kaputt machen will. Auch von diesem Szenario will er sich gerade abwenden, als ihm plötzlich ein absolut göttlicher Duft in die Nase zieht.

Wie auf ein stilles Kommando, fängt sein Magen an laut zu knurren und verlangt gefüllt zu werden. Estarossa hat es nicht sonderlich schwer, um das kleine Restaurant zu finden. Er musste nur seiner Nase folgen. Keine zwei Minuten später, steht er vor dem Laden, aus dem dieser absolut köstliche Geruch kommt. Zwar bevorzugt er meist rohes Fleisch, doch zu einer eiweißhaltigen, gekochten Mahlzeit, würde er auch nicht nein sagen. Also sucht er sich einen freien Platz am Tresen, setzt sich und lässt seine Augen über die Speisekarte huschen. „Willkommen, Fremder. Hast du dich schon entschieden?" Die Stimme des Mannes klingt hell und freundlich. Wirklich lange musste er nicht überlegen. „Einen Fleischteller und einen Sake", sagte er. „Eine gute Wahl", lobte der Koch und macht sich sofort an die Arbeit. Zehn Minuten später, stellt er ihm eine große Portion gebratenes Fleisch und einen Sake mit einer kleinen Schale hin. „Du kommst nicht von hier, oder?" Estarossa hob den Kopf und sieht ihn mit vollgestopften Mund an. Er nickte nur einmal, während er sich sein Essen einverleibt. Der Koch versucht mit ihm ein Gespräch anzufangen, doch da musste er warten, bis er seinen Teller leer gegessen hat. Da geht Estarossa ganz nach dem Sprichwort: Wenn der Vogel frisst, pfeift er nicht. Also muss er Geduld mit ihm haben.

„Ich bin nur auf der Durchreise", sagte er, nachdem er sein Besteck auf den Teller gelegt hat. „Das dachte ich mir fast. In Alondara sieht man sehr selten jemanden, mit silbernen Haaren. Darf ich fragen, wo deine Reise hingeht?" Der Dämon kippt etwas Sake in die Schale und leert sie. Es brennt, doch ansonsten ist er ziemlich gut. Der Alkohol lässt ein warmes Gefühl in ihm zurück, daher leert er gleich eine weitere Schale. „Britannia", antwortet er dann mit einer gewissen Verzögerung. Auf einmal wird der Koch ein wenig bleich und seine Augen werden riesig groß. „Britannia? Du willst nach Britannia?" Alle Farbe ist dem Koch aus dem Gesicht gewichen. „Deine Reiseziele und Beweggründe gehen mich zwar nichts an, doch ich an deiner Stelle, würde einen großen Bogen um dieses Land machen." Nun wird das Gespräch doch ein wenig interessanter. „So...? Und wieso sollte ich das?" Der Dämon kann sich eine gewisse Herausforderung in der Stimme nicht verkneifen. „Das weißt du nicht? Britannia ist den Dämonen anheim gefallen. Sie haben dort alle Menschen versklavt und missbrauchen sie als Arbeitskräfte, fressen sie, oder halten sie als Haustiere."

Um ein Haar, hätte Estarossa höhnisch aufgelacht, doch er wusste sich zu beherrschen. Nun mischt sich eine Frau mit in das Gespräch ein. „Ich habe gehört, dass zehn besonders starke Dämonen das ganze Land in nur drei Tagen unterworfen haben. Immer mehr Menschen versuchen in die Nachbarländer zu fliehen, um diesen seelenlosen Monstern zu entkommen. Da können wir von Glück sprechen, dass zwischen Alondara und Britannia noch Ishgalad und Valia liegen." Auf einmal klingeln Estarossa die Ohren. Genau in dieser Sekunde wurde ihm klar, wie weit weg die magische Sonne ihn befördert hatte. Die Sache ist doch komplizierter und aufwendiger, als Estarossa es gehofft hat. „Verstehe...", sagte der Dämon und leert eine weitere Schale. „Hmm...hätte nicht gedacht, dass sich Alkohol in dreitausend Jahren so weiter entwickeln würde", nuschelt er unverständlich. „...Wie bitte?" Er schüttelt den Kopf. „Nichts." Estarossa fischt aus seinem Beutel ein paar Münzen und legt sie dem Koch hin. Er leert eine letzte Schale, und grinst dann einmal so breit, dass die Frau für eine Sekunde seine Reißzähne sehen konnte. „...Gott...du bist ein..." Doch er steht auf und ging einfach, ohne ein Wort zu sagen. „Kate? Ist alles in Ordnung?" Sie schaut ihm länger hinterher als nötig. „Ja...ja...mir geht es gut. Ich muss mich getäuscht haben."

So sehr Estarossa wieder nach Hause will, hat er sich doch dafür entschieden, ein paar Tage in Kusa zu bleiben. Der Dämon sollte sich eine Unterkunft suchen, doch nun hat erst einmal die große Windmühle sein Interesse geweckt. Er marschiert den Hügel hinauf und findet sich vor einer kurzen Treppe, die er ohne Probleme überwindet. Doch das sieht auf einmal ganz anders aus, als er das Innere der Windmühle betritt. Vor ihm erstreckt sich eine schier endlose Wendeltreppe, die ins Nichts zu führen scheint. „Hmpf...", macht es Estarossa herablassend und fängt an die Treppe zu bezwingen. Dabei zählt er jede Stufe, die er nach oben geht. Viermal kommt er an einem Zwischenpodest vorbei, das nach draußen führt und einen wahrscheinlich wunderschönen Blick auf Kusa gibt. Doch er wäre kein stolzer Dämon, wenn er nicht bis nach ganz oben gehen würde. Nach einem anstrengenden Aufstieg, der fast zehn Minuten gedauert hat, zählt er die letzte Stufe. „Zweihundertachtundzwanzig...", flüstert er leise. Endlich hat er das fünfte und letzte Stockwerk erreicht. Estarossa öffnet die Tür. Kaum hat er das Podest betreten, fegt ihm kalt und laut der Wind um die Ohren.

Sein silbernes Haar wird wirr durcheinandergewirbelt und erinnert schon bald an ein einfarbiges Wollknäuel. Das Podest erstreckt sich als runder Balkon um die gesamte Windmühle, sodass man wirklich einen kompletten Blick über die gesamte Stadt hat. Selbst unter den Einheimischen kommt nur selten jemand ganz nach oben. Der Wind ist hier oben so stark, dass selbst Estarossa sich an den angebrachten Eisenstangen festhalten muss. Da ist es kein Wunder, dass es Kindern verboten ist, das letzte Stockwerk der Windmühle zu betreten. Er richtet seinen Blick nach oben. Riesige Windflügel, rotieren nur wenige Meter über seinem Kopf und schicken den Wind in die gesamte Stadt herunter. Der Dämon umkreist einmal den gesamten Balkon und verschafft sich einen Überblick. Dort unten erkennt er die Schmiede, die er sich aus der Nähe angeschaut hat. Und einen Glasbläser kann er von hier oben auch sehen. So gut es geht, prägt sich Estarossa das Bild der Stadt ein. Dann macht er sich wieder daran, die Zweihundertachtundzwanzig Treppenstufen abwärts zu gehen. Diese Erfahrung hat ihm gezeigt, dass die Windmühle viel größer ist, als der erste Eindruck einen glauben lässt. Er fragt sich wirklich, wer dieses imposante Gebäude errichtet hat.

Als der Dämon dort oben den Glasbläser entdeckt hat, ist ihm ein interessanter Gedanke gekommen. Also sucht er diesen nun auf, um seinen Gedanken wahr zu machen. Der Glasbläser ist gerade dabei etwas herzustellen, während seine Frau an einem Tisch sitzt und seine Waren verkauft. Sie nickt ihm einmal freundlich zu, während er seinen Blick über die verschiedenen Glaswaren schweifen lässt. „Kann ich Ihnen helfen?" Kaum hat die Frau ihn angesprochen, da finden seine Augen, was er gesucht hat. „Das hier", sagte er und hebt ein kleines Glasfläschchen hoch, welches man mit einem winzigen Korken verschließen kann. Am Hals des Fläschchens, befinden sich zwei kleine Ösen, durch die man eine Schnur oder ein Band ziehen kann. Diese Feinheit zeugt von einer ruhigen Hand und sehr viel Erfahrung. Tatsächlich ist der Mann schon in die Jahre gekommen. Und dennoch liebt er seinen Beruf heute noch. Das merkt man schnell, an den kunstvollen Glasrosen, die wie ein Kristall das Licht brechen. Estarossa greift in den Beutel und legt der Frau das passende Kleingeld hin. Nach dem Erwerb des Fläschchens, sucht er noch einen Schmuckhändler auf, um dort eine silberne, feine Kette zu kaufen, die er in die Ösen von dem Fläschchen zieht. Aus seiner Hosentasche, holt er die Locke von Natalia, zieht den Korken und steckt ihre Haarsträhne hinein. Schließlich verschließt er es wieder, und bindet sich die Kette um den Hals. Nun trägt er ihre Locke als Halsschmuck, den er sogleich unter seinem Mantel versteckt. Das Glas fühlt sich kalt und glatt an. Doch schon bald, passt es sich der Wärme seiner Haut an.

Eine weitere Stunde vergeht, wo Estarossa einfach über den Markt schlendert und sich einen weiteren Eindruck verschafft. In wenigen Stunden, würde die Sonne untergehen. Also macht er sich daran, sich eine Unterkunft und somit einen sicheren Schlafplatz zu suchen. Natürlich hätte er absolut kein Problem damit, unter dem nächsten Baum die Nacht zu verbringen. Doch in einer viel bewohnten Stadt, würde das nur zu unnötigem Aufsehen kommen. Es muss nichts teures, luxuriöses sein. Ein einfaches Zimmer, dessen Tür man absperren kann, genügt ihm schon. Also klappert Estarossa einige Unterkünfte ab, um sich am Ende das schäbigste, aber auch billigste herauszusuchen. Der Dämon hatte nicht lange gebraucht um zu begreifen, dass in Alondara mit Goldmünzen und Silbermünzen gezahlt wird. Seine Unterkunft kostet zwanzig Silber pro Nacht. Die teuerste Unterkunft, die er gesehen hatte, kostet fünf Goldmünzen für jede Nacht. Und eine Goldmünze hat den Wert von hundert Silbermünzen. Da kommt er mit seiner Unterkunft wirklich extrem günstig weg. Estarossa bezahlt das Zimmer für drei Tage im Voraus, nimmt den Schlüssel und verschwindet sogleich.

Der Besitzer von dem Schuppen hat wirklich nicht zu viel versprochen. Das Zimmer ist in der Tat schäbig und heruntergekommen. „Wow...Menschen sind noch primitiver, als ich dachte", sagte er sarkastisch. Ein total durchhängendes Sofa, sticht ihm sofort ins Auge. Ein für ihn viel zu kleines Bett, und ein uralter Fernseher, der nur funktionierte, wenn er Lust dazu hat. Doch das absolute Highlight, war die Kakerlake, die am Boden sitzt und ihren neuen Mitbewohner dumm anzuschauen scheint. Für viele Menschen, war dieses Tier ein absoluter Ekelfaktor. Doch für Estarossa, war sie ein willkommener Snack. Lang hatte die Kakerlake also nicht überlebt. Solche Dinge stören ihn einfach nicht. Wenn man bedenkt, dass er normalerweise im Wald oder in einem Kornfeld schläft, war dieses heruntergekommene Zimmer ein wahrer Luxus für ihn. Es hat eine verdammte Tür, die man absperren kann. Natürlich kann man sich für ein paar Extramünzen auch noch ein paar weitere Dienstleistungen erkaufen, wie Frühstück oder Zimmerputz. Doch Estarossa wollte weder das eine, noch das andere. In diesem Zimmer kann man ohnehin nicht mehr viel retten. Und was Menschen unter Frühstück verstehen, darüber wollte er gar nicht nachdenken.

Der Dämon würde am frühen Morgen einfach losziehen und dem nächstbesten Viech den Kopf abreißen. Dabei muss er jedoch aufpassen, dass ihn niemand sieht. Immerhin isst kein Mensch rohes Fleisch. Auch da spielt es keine Rolle, um welche Beute es sich handelt. Im Laufe seines langen Lebens, war Estarossa vieles scheißegal geworden. Selbst wenn er seltenerweise mal einen Vogel erwischt, frisst er ihn mit Knochen und Federn. Immerhin ist sein Magen darauf ausgelegt, so gut wie alles verdauen zu können. Und dazu gehören auch Knochen, Federn und Schuppen. Er musste zugeben, dass er schon mehr wie einmal, Schlangen, Eidechsen oder andere Schuppentiere gefressen hat. Selbst an Muscheln kommt er problemlos heran. Dafür hat er schließlich seine tödlichen Reißzähne. Estarossa hatte also absolut nichts dagegen, wenn noch ein paar weitere Insekten unter dem Bett hervorkriechen würden. Doch leider bleibt dieser Wunsch aus. Stattdessen genehmigt er sich ein heißes Bad. Und die Badewanne ist im Gegensatz zu dem Zimmer, erstaunlich sauber. Entweder wurde sie erst vor kurzem ausgetauscht, oder jemand hat eine wahre Wunderwaffe gegen Schmutz gefunden.

„Verdammt, nochmal...warum müssen Menschen so verdammte Winzlinge sein?" Er muss beim baden seine überlangen Beine über den Wannenrand legen. Und auch das Bett sieht nicht anders aus. Doch bevor er sich schlafen legt, wühlt er noch etwas in den Büchern und Broschüren des Zimmers herum. Ein interessanter Artikel, zeigt die große Windmühle, die er heute besichtigt hat. „...Der Geschichte nach, wurde Kusa vor vielen Jahren von einem Windgott erbaut. Als die Gottheit starb, erbaute man die Windmühle, um ihm zu gedenken. Daher wird Kusa auch die Stadt des Windes genannt." Der Dämon lachte einmal spöttisch und wirft die Broschüre in den Mülleimer. „Als ob diese schwächlichen Kreaturen heutzutage noch an Götter glauben." Über diese äußerst lustige Erkenntnis, will er nicht länger nachdenken. Stattdessen, wirft er das Kopfkissen und die Bettdecke auf den Boden, um sich dort zusammenzurollen. Auf dem Boden hat er wenigstens genug Platz und fühlt sich nicht eingeengt. Wenn Estarossa eine Sache aggressiv macht, dann ist es eingeschränkte Bewegungsfreiheit. Ein herzhaftes Gähnen verlässt seine Kehle, bevor er die richtige Schlafposition gefunden hat. „Hmm...mal sehen, was ich morgen erreichen werde." Jedenfalls hat er sich vorgenommen, den ein oder anderen Bewohner Kusa's zu terrorisieren.


Mein Freund, der DämonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt