Trennungsschmerz

164 7 7
                                    

Estarossa liegt auf einem großen Ast eines Ahornbaumes und betrachtet die kleine Glasflasche um seinen Hals. Noch immer, liegt die braune Haarlocke darin und versorgt ihn mit süßen Erinnerungen. Die Nächte im Wald sind kalt und still. Da schwebt lautlos ein winziges Licht an ihm vorbei. Schließlich folgt ein weiteres, winziges Licht. Estarossa verfolgt das Leuchten mit den Augen. Die zwei Lichtkugeln verschwinden kurz, tauchen wieder auf und umkreisen sich langsam. Ganz so, als ob sie miteinander tanzen würden. „...Was ist das nur für ein seltsames Licht?" Noch nie in seinem Leben, hat er ein Glühwürmchen gesehen. Nun ist sein Interesse geweckt und er folgt den beiden Leuchtkäfern, als sich diese immer weiter von ihm entfernen. Der Dämon springt mit seinen kräftigen Beinen vom Ahornbaum herunter, und schlägt seine scharfen Klauen in den Stamm einer Buche. Geschickt wie ein Eichhörnchen, klettert er von Baum zu Baum und lässt dabei das Leuchten nicht aus den Augen. Durch die stille Dunkelheit, kann er die beiden Insekten gut sehen. Sein scharfsichtiges Auge ermöglicht es ihm, selbst bei absoluter Finsternis gut sehen zu können und somit einer bösen Überraschung zuvor zu kommen. Unter ihm raschelt es leise. Ein kleines Wildschwein wühlt unter dem Laub nach Eicheln und kleinen Kriechtieren. Es ist sein Glück, dass Estarossa die Glühwürmchen im Moment interessanter findet. Anderenfalls, hätte er sich von oben herunterfallen lassen und hätte es gefressen.

Langsam schweben die beiden Lichtkugeln an einem moosbewachsenen Felsen vorbei, umkreisen einen umgestürzten Baum und entschweben auf eine Lichtung davon. Estarossa verfolgt sie weiter. Und was er dort zu sehen bekommt, lässt ihn den Atem anhalten. „Wow..." Tausende von Glühwürmchen, schwirren auf der Waldlichtung umher und führen ihre leuchtenden Tänze auf. „...Wenn sie das nur sehen könnte..." Langsam läuft er auf die Lichtung. Die unzähligen Leuchtkäfer lassen sich dabei nicht von ihm stören. Er hebt die Hand und versucht ein paar von diesen seltsamen Lichtern zu fangen. Doch die kleinen, aber sehr flinken Tiere, weichen ihm grazil und elegant aus. Da setzen sich zwei der winzigen Käfer auf seinen Handrücken und senden sich gegenseitig schüchterne Lichtsignale zu. „Ich verstehe...ihr redet so miteinander." Da fliegen die beiden wieder davon und verschwinden irgendwo im Schwarm. Estarossa stöhnt und lässt sich ungebremst auf den weichen Waldboden fallen. Schweigend streckt er alle vier Gliedmaßen von sich und starrt in den schwarzen Nachthimmel hinein. Dünner Nebel, versperrt die Sicht auf das Funkeln der Sterne, sodass sie nur vereinzelt zu sehen sind. Gedankenlos, greift er in den Baumwollbeutel und holt ein Stück Trockenfleisch heraus, auf dem er herumkaut. Noch immer, schwirren tausend von winzigen Lichtkugeln um ihn herum. Seine Gedanken zerstreuen sich immer mehr ins Nichts, bis er schlussendlich die Augen schließt. „...Verdammt nochmal...wo kommt auf einmal dieses fiese Zwicken in meiner Brust her...?"

Natalia kann nicht schlafen. Sie liegt schon seit Stunden wach und starrt nachdenklich die Wand an. Irgendwann dreht sie sich um und streicht über die kalte, leere Bettseite. Früher hat sie das nie gestört, doch nun vermisst sie die Wärme seiner Haut, die sie immer sehr glücklich gemacht hat. Schließlich gibt die Farmerin auf und steigt aus dem Bett, um sich in der Küche eine warme Milch mit Honig zu machen. „Natalia...?" Hannah setzt sich auf und reibt sich müde die Augen. „Tut mir Leid...hab ich dich aufgeweckt?" Ihre Freundin gähnt einmal und reibt sich erneut die Augen. „Kannst du nicht schlafen? Das ist sehr ungewöhnlich für dich." Daraufhin schüttelt sie den Kopf. „Nein...ich finde einfach keine Ruhe." Hannah muss nicht nachfragen, woran das liegt. Diese Frage, kann sie selbst beantworten. Nachdem die Milch heiß genug ist, nimmt sie ein Glas Honig in die Hand und taucht einen Honiglöffel hinein, damit sie das flüssige Gold in die Milch fließen lassen kann. Schließlich setzen sich die beiden Freundinnen mit jeweils einem Becher in der Hand auf das Sofa und lauschen den Geräuschen der Nacht. In aller Ruhe, trinkt sie ihre Milch und genießt dabei jeden Schluck, der warm ihre Kehle hinunterläuft. „Ich brauche ein bisschen frische Luft, begleitest du mich?" Hastig trinkt Hannah ihren Becher aus und nötigt Natalia dazu, sich einen Mantel anzuziehen oder zumindest sich in eine Decke zu wickeln.

Die Nachtluft ist frisch und klar. Eine angenehme Brise weht über die Weide und bringt die Blätter der Bäume zum tanzen. Eines löst sich von seinem Ast und treibt wehrlos im Wind umher. „Die Blätter deiner Bäume fangen an sich zu kräuseln. Das sind die ersten Anzeichen, dass der Herbst im Anmarsch ist", sagte Hannah. Natalia macht einen Spaziergang über die Weide. Anders als im Wald, ist der Nachthimmel hier klar, wodurch Mond und Sterne genug Licht spenden. Da hebt plötzlich unwillkürlich eines der Schafe den Kopf und blökt erschrocken auf. „Oh...habe ich dich erschreckt, Lotte?" Die Farmerin geht auf die Knie und streichelt dem Schaf beruhigend über den Kopf, das sie an dem schwarzen Fleck auf dem rechten Ohr erkennt. „...Es ist alles in Ordnung...du musst keine Angst haben." Entspannt, legt sich Lotte wieder hin und schläft weiter. Nachdem sie wieder aufgestanden ist, fällt ihr etwas unglaublich schönes auf. „Hannah, sieh doch..." Zwei winzige, leuchtende Punkte tanzen durch die Dunkelheit. „Glühwürmchen", sagte Natalia und lächelt. Hannah beobachtet die kleinen, leuchtenden Punkte. „Meine Großmutter hat mir einmal erzählt, dass sich Glühwürmchen gerne dort aufhalten, wo die Natur noch gesund ist", erwidert Hannah. Sie richten beide den Blick gen Himmel und betrachten das helle Licht des Mondes. Da zieht ein heller Silberschweif vorbei. „Eine Sternschnuppe!" Aufgeregt, schließt die Farmerin die Augen und wünscht sich etwas. Da wird sie durch ein leises miauen aus den Gedanken gerissen. „Molly...bist du wieder jagen gewesen?" Sie nimmt ihre Kätzin auf den Arm und streichelt sie. „Dein Fell ist schon ganz kalt. Lass uns wieder ins Haus gehen, Hannah. Sonst erkälten wir uns noch." Im Wohnzimmer lässt sie ihre Katze wieder runter und geht zurück ins Bett. Auf einmal legt sich Hannah neben sie, weshalb Natalia ihre Freundin verwirrt ansieht. „Ich weiß, dass ich ihn nicht ersetzen kann. Aber vielleicht tröstet es dich dennoch ein wenig." Da schenkt sie ihr ein sanftes Lächeln. „Danke, Hannah", sagte sie und versucht endlich einzuschlafen und ein wenig Ruhe und Erholung zu finden.

Leise singen die Vögel in den Baumkronen und kündigen den nächsten Morgen an. Estarossa blinzelt einmal und setzt sich langsam auf. Noch immer ist er auf der Waldlichtung, doch die Glühwürmchen sind verschwunden. „Ich muss eingeschlafen sein...", brummt er. Nun steht der Dämon auf und klopft sich die Kleidung sauber. Da knurrt sein Magen einmal laut auf, woraufhin er grimmig das Gesicht verzieht. Estarossa will so schnell wie möglich weiter, also setzt er sich auf einen umgefallenen Baum und plündert den Baumwollbeutel. Zur späteren Stunde, wird er sich einfach etwas fangen. Glücklicherweise gibt es auf der Lichtung keine Bäume, die ihn bei einem Senkrechtstart behindern können. Gerade will er seine Schattenschwingen wieder hervorbrechen lassen, als ihn plötzlich ein lauter Hilfeschrei erreicht. Da hält Estarossa inne und blickt in die Richtung, aus der dieser Schrei gekommen ist. Der innere Dämon sagt ihm, dass diese Sache ihn nichts angeht. Doch sein jahrhundertelanges, unterdrücktes Gewissen kommt zum Vorschein. Und dieses sagt ihm, dass er es nicht ignorieren soll. Estarossa löst sich aus der starren Haltung und sprintet schnell wie ein Feldhase in die richtige Richtung. Der Geruch von Angst steigt ihm in die Nase. Erneut hallt der Hilfeschrei durch den Wald. Und nun erkennt er auch, dass er von einer jungen Frau kommt. Ein Korb voller Pilze liegt neben ihr am Boden, während zwei ältere Männer sie bedrängen und ihr an die Wäsche wollen.

Estarossa wusste nicht warum, doch dieser Anblick, löst eine enorme Aggression in ihm aus. Da streckt er seine rechte Hand von sich, um den ersten der beiden ohne Vorwarnung seine Klauen durch das Gesicht zu ziehen. Sofort lässt er von der Frau ab, beginnt zu schreien und hält sich das schmerzende, zerkratzte Gesicht. „Mein Auge...mein verdammtes Auge...", jault er. Sofort zieht der zweite ein kleines Messer, doch als er sieht, was seinen Bruder angegriffen hat, lässt er dieses sofort fallen. Nicht nur Blut klebt an seiner Klaue. Er hat dem älteren das rechte Auge ausgekratzt. „...Verschwindet...bevor ich euch beide von unten nach oben aufschlitze", knurrt er. „Scheiße, ist der groß! Lass uns abhauen." Da nimmt er seinen verletzten Bruder und sucht sofort das Weite. Estarossa schüttelt das zerstörte Auge ab und lenkt seine Aufmerksamkeit nun auf die Frau. Sie ist starr vor Angst, bleich wie ein Gespenst und unfähig sich zu bewegen. „Bitte...verschone mich..." Warum ist sie nur in den Wald, um Sommerpilze zu suchen? Estarossa antwortet ihr nicht. Stattdessen zuckt seine Nase. Er kann eine bestimmte Heilpflanze riechen, nach der er greift und ein paar Blätter abreißt. Er war Beinwell. Der Dämon zerkaut die Blätter zu einem Brei und drückt ihr diesen auf einen blauen Flecken, wo dieser Abschaum sie zu grob angefasst hat. Natalia hat ihm ein wenig über Heilpflanzen und Heilkräuter beigebracht. Da wendet er sich ab, um auf einer freien Fläche einen Senkrechtstart hinzulegen und davonzufliegen. Verwirrt und verängstigt, sieht sie ihm hinterher. „Was...war das nur für ein Wesen...?"

Estarossa hat den Wald verlassen. Seine Flugfähigkeit erspart ihm viel Zeit, kostet aber auch unglaublich viel Kraft. Das war der Grund, warum er beim ersten mal noch zu Fuß gehen musste. Am Horizont taucht die Stadt Kusa auf. Selbst in dieser Entfernung, kann man die imposante Windmühle sehr gut erkennen. Schon nach wenigen Minuten, hat er den Stadtrand erreicht. Dabei macht sich der Dämon nicht einmal die Mühe, seine wahre Natur zu verbergen. „Mama, sieh mal was für ein großer Vogel da am Himmel fliegt", sagte ein neugieriges Kind. Gerade als die Mutter des Kindes nach oben blickt, zieht er blitzschnell über ihren Köpfen vorbei. „Ich weiß nicht, was das gewesen ist, aber es war kein Vogel", sagte sie erschrocken. Nun fliegt er auf die Windmühle zu. Schaulustige haben sich angesammelt, als Estarossa den Flügeln der Windmühle immer näher kommt. Da dreht er elegant eine Schraube und weicht den riesigen Rotoren geschickt aus. Sekunden später, schießt er aus der Stadt wieder raus und verschwindet als kleiner Punkt am Horizont. Ab hier ist Alondara fremdes Land für ihn. Estarossa fliegt mehrere Stunden durch, doch so langsam kommt er an seine Grenze. „...Ich muss mich ausruhen...und etwas essen..." Da fliegt ihm der Geruch von Schafen in die Nase. Mit der Zunge, überprüft er die Lücke in der oberen Zahnreihe und kann schon die Spitze des neuen Zahnes spüren. Immer wenn er einen verliert, wächst der fehlende Zahn innerhalb einer Woche wieder nach. Nun landet er ganz in der Nähe der Schafherde, lugt um die Ecke und schaut wo sich der Schäfer aufhält. Bei einem günstigen Moment, schnappt er sich eines der Schafe, bringt es zum schweigen und frisst es auf. Später wird man nur noch die Knochen des Tieres finden. Nun wo er gesättigt ist, sucht er das nächste Waldstück auf, um sich dort einen sicheren Schlafplatz für die Nacht zu suchen. Auf einem dicken Ast, lehnt er sich an den Stamm und betrachtet wieder die kleine Glasflasche. „...Zumindest...bist du nicht alleine..."

Natalia kommt aus dem Badezimmer und hat sich fertig für die Arbeit gemacht. Sie hat eine Kerbe in den Reißzahn von Estarossa geritzt, eine dünne Schnur darum gebunden und nun trägt sie ihn als Halsschmuck. Sanft streicht sie über dieses Andenken und ist dankbar für diese süße Erinnerung. Die Farmerin winkt Hannah zu, die gerade die Eier von ihren Hühnern einsammelt. „Guten Morgen, Lotte. Hast du dich von deinem nächtlichen Schrecken erholt?" Sie streichelt dem Schaf über den Körper und schaut es sich an. „Dein Bauch ist schon stark geschwollen, sicher wird dein Junges bald zur Welt kommen." Tatsächlich steht heute nicht nur melken auf dem Plan, sondern Tierpflege. Die Schafe und Ziegen werden geschert und gekämmt. Die wertvolle Wolle verkauft sie zum Teil und mit Hannahs Hilfe, schneidet sie später noch die Klauen der Paarhufer. Plötzlich wird Natalia wieder schlecht, woraufhin sie sich umdreht und sich ins nächste Gebüsch übergibt. Oh...ein Glück hat Hannah das nicht gesehen..." Sie nimmt ihr Taschentuch und wischt sich den Mund sauber. „Ich muss mir wirklich den Magen verdorben haben..." Eigentlich denkt Natalia eher, dass diese Übelkeit vom Trennungsschmerz kommt. Letzte Nacht hat sie noch geweint, da sie Estarossa so sehr vermisst. Oder es liegt an der Tatsache, dass ihr Zyklus bald von neuem anfängt. Jeden Tag wartet sie darauf, dass die Blutung einsetzt.

Eine Woche ist vergangen, seit Estarossa gegangen ist. Die Übelkeit hatte nicht nachgelassen, weshalb sie beinahe jeden Tag über den Büschen hängt. Natalia hat Hannah versprochen, morgen einen Heiler aufzusuchen. Doch an diesem Abend, will sie einfach nur ein heißes Bad genießen. Bevor sie sich in die Wanne legt, geht sie nochmal auf die Toilette. „Immer noch nicht...", murmelt sie leise und betrachtet ihre Unterwäsche. Die Farmerin ist überfällig, was ihre Blutung angeht. Nachdenklich, legt sie sich ins heiße Wasser und fragt sich, was mit ihrem Körper passiert. Nach dem Bad, trocknet sie sich ab und zieht sich frische Unterwäsche an. Während sie in den Spiegel schaut und sich die Haare kämmt, fällt ihr Blick auf den Reißzahn. Da überkommt sie urplötzlich der Appetit auf Fisch und Süßigkeiten. Natalia wird kreidebleich im Gesicht. „...Oh mein Gott...", hauchte sie leise und lässt die Bürste fallen. Das ständige erbrechen, die ausbleibende Monatsblutung und der Heißhunger auf ungenießbare Essenskombinationen. Wortlos geht sie zu ihrer Freundin und sieht sie mit glänzenden Augen an. „Hannah...?" Sie legt sich ihre Hände auf den Bauch. „...Ich bin Schwanger..."


Mein Freund, der DämonWhere stories live. Discover now