Estarossas Vermächtnis

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Das letzte Blatt hat sich soeben gelöst und wird vom Winde verweht. Die kahlen Winterbäume stehen trostlos da und warten sehnsüchtig auf das warme Frühjahr. Vier Monate sind vergangen und der letzte Monat des Jahres, neigt sich dem Ende zu. Man kann nun schon eine kleine Kugel am Bauch von Natalia erkennen. Ihre Freundin Hannah ist aus allen Wolken gefallen, nachdem sie es ihr gebeichtet hat. Doch wirklich überrascht, war die goldhaarige Schönheit nicht. „Ich kann noch immer nicht glauben, dass das Silberlöckchen dir wirklich ein Kind gemacht hat. Und dann ist er auch noch abgehauen und drückt sich vor der Verantwortung." Natalia legt ihre Hand auf die kleine Kugel und errötet leicht. „...Gib ihm nicht die Schuld. Er weiß nicht, dass er Vater wird." Jeden Tag, spürt sie das heranwachsende Leben in sich. Ein Wesen, das weder Mensch noch Dämon ist. Und dennoch, liebt sie ihr ungeborenes Kind jetzt schon mehr, als ihr eigenes Leben. Ein schöneres Geschenk, hätte Estarossa ihr nicht hinterlassen können. „Schau, Natalia. Da kommt er." Die Farmerin blickt zum Fenster hinaus und will schon aus der Tür stürmen. „Hiergeblieben, freche Göre." Hannah schnauft einmal belustigt und reicht ihr den warmen Wollmantel. „Du wirst dir eine Lungenentzündung holen, wenn du ohne warme Kleidung in diese Kälte hinaus gehst." Natalia grinst ihre Freundin einmal dankbar an und schlüpft in den warmen Mantel. Immerhin muss sie auch ihr Baby beschützen. Nun geht sie warm eingepackt hinaus und bekommt einen glücklichen Gesichtsausdruck. „Großvater!"

Johann hebt den Arm und winkt seiner Enkelin zu. „Hallo, meine Kleine." Der alte Mann steigt von seinem Zuggespann, während die alte Bessy glücklich ist, endlich am Ziel zu sein. „Natalia...ich hätte nie im Leben gedacht, dass du aus mir einen Urgroßvater machst", lacht Johann. Die Farmerin nimmt ihren geliebten Opa in die Arme. „Eigentlich war das nicht meine Absicht, aber nun ist es eben passiert", sagte sie. Nachdem Natalia ihm einen Brief geschickt hat, dass sie ein Kind erwartet, hat er nicht lange für eine Entscheidung gebraucht. Johann hat sein Haus und sein Grundstück verkauft, damit er seiner Enkelin helfen kann. Wissend, dass sie es niemals alleine schaffen wird, sich um ihre Farm zu kümmern und gleichzeitig ein Kind zu erziehen. Auch Hannah hat ihr versprochen, dass sie ihre beste Freundin regelmäßig besucht und ihr mit Rat und Tat zur Seite steht. „Ich habe das Gästezimmer für dich schon umgeräumt und fertig gemacht, Großvater. Bringen wir deine Sachen erst einmal ins Haus und danach bringe ich Bessy in den Stall." Die alte Eselin lässt sich im Stroh nieder und wird von nun an ihren wohlverdienten Ruheabend genießen. Dieser Winter ist bitterkalt, weshalb sich Johann erst einmal vor den Kamin stellt, um sich wieder aufzuwärmen. Natalia hat ihm wirklich alles in ihrem Brief erzählt, weshalb er über die ganze Situation aufgeklärt ist. Die Wärme sucht ihren Weg durch das Haus und verbreitet sich angenehm in jedem Zimmer. Die Reise hat Johann sehr müde gemacht, weshalb er an diesem Abend schon früh zu Bett geht.

Natalia verbringt ihre Abende nun anders als früher. Während Hannah für sie Wolle filzt und spinnt, arbeitet sie an einem Weidenkörbchen. Stück für Stück, zieht sie das mit Wasser voll gesaugte Peddigrohr durch die Flechthilfe, sodass das Weidenkörbchen immer mehr Form annimmt. Sobald es fertig ist, wird sie es mit Stroh und Wolle auspolstern. Darüber wird dann noch ein Überzug aus Baumwolle und Leinen gezogen. Immerhin soll sich ihr Kind wohl fühlen und es schön warm und weich haben. „Lass uns für heute aufhören, Natalia. Du kannst die Augen kaum noch offen halten." Sie gähnt einmal darauf und nickt als Antwort. „Ich mache noch diese Runde fertig." Die sonst so sture Farmerin hält Wort und räumt ihr Arbeitsmaterial weg. Sie macht sich rasch fertig für das Bett und fällt dann todmüde hinein. Inzwischen hat sie sich daran gewöhnt, dass er nicht mehr hier ist, doch sie hat nicht aufgehört, ihn zu vermissen. Jeden Tag, denkt sie an ihn und fragt sich, wie er wohl reagieren würde. Ob Estarossa in der Lage wäre, sein Kind zu lieben, oder ob er sich davon abwenden würde. Jeden Abend, gehen ihr viele Gedanken durch den Kopf und was sie noch alles erledigen muss. Neben dem Weidenkörbchen, hat sie schon einiges an Kleidung genäht. Ein Kuscheltier, das sie mit Wolle ausgestopft und mit getrockneten Lavendel gefüllt hat. Müde und nachdenklich, kuschelt sich Natalia in ihre Decke, während sie ihren Bauch streichelt. Schon bald, wird sie die ersten Bewegungen von ihrem Kind spüren. Dieser Gedanke treibt ihr ein glückliches und zugleich melancholisches Lächeln ins Gesicht. „Estarossa...", murmelt sie leise. „...Du hast es mir versprochen..."

„Hm...?" Estarossa dreht sich um und blickt in die Dunkelheit hinein. Für einen kurzen Moment, hatte er das Gefühl, dass ihn jemand gerufen hat. „Nein...da war nichts..." Er öffnet die Knöpfe von seinem Mantel und legt ihn zu dem Wams. Mittlerweile ist er froh, dass Natalia sich die Arbeit damit gemacht hat. Denn er spürt jeden Tag mehr, wie der Winter seinen eisigen Odem über das Land weht. Vor drei Tagen, hat er Alondara hinter sich gelassen und Ishgalad erreicht. Dieses Land beherbergt viele Täler und Gebirge. Auf der Suche nach einem sicheren Schlafplatz, wurde er von einem eigenartigen Geruch angelockt und hat prompt eine heiße Quelle gefunden. Das Wasser ist von der Temperatur her sehr angenehm und weckt neue Lebensgeister in ihm. Estarossa richtet seinen Blick zum Himmel und schaut sich das Funkeln der Sterne an. In dieser Nacht ist der Himmel so klar, dass man selbst den Sternenstaub in der Milchstraße sehen kann. Es ist ein sonderbares Gefühl, von dem Zusammenspiel von Wärme und Kälte. Das angenehm warme Wasser, wo seinen Körper warm hält und zugleich die eisig kalte Luft, die schleichend in seine Lungen kriecht. Estarossa nimmt davon einen tiefen Atemzug und bläst sichtbar seinen Atem aus. Eine weiße Wolke aus gefrorener Luft, die sogleich verdunstet und verschwindet. „...Verdammt nochmal...ich hasse den Winter..." Nach einer Stunde, verlässt er die heiße Quelle, schüttelt sich einmal kräftig und schlüpft eilig in seine Kleidung zurück. Er braucht einen Unterschlupf für die Nacht. Glücklicherweise findet er eine kleine Höhle, nachdem er sich mit einem Bergfuchs darum geprügelt hat.

„Du hast es ja darauf angelegt, Freundchen. Und das hast du jetzt davon", schnurrt er zufrieden und reißt das Fleisch von den Knochen. Insgeheim hofft er bald eine Stadt oder ein Dorf zu finden. Tatsächlich weiß Estarossa nicht, wie lange er schon unterwegs ist. Und er hat absolut nichts dagegen, einmal wieder in einem warmen Bett zu schlafen. Nach seiner Mahlzeit, rollt er sich in der hintersten Ecke der Höhle zusammen und versucht ein bisschen zu schlafen, was ihm allerdings nicht so recht gelingen will. „...Ist ja abnormal, wie kalt diese Berge sind..." Nach einem weiteren, erfolglosen Versuch einzuschlafen, ist Estarossa losgegangen, um ein wenig Feuerholz zu suchen. Er muss sich dringend aufwärmen, sonst wird er sich nicht nur ein oder zwei Frostbeulen holen, sondern gänzlich als Eiszapfen enden. Die angenehme Wärme des Feuers breitet sich langsam in der ganzen Höhle aus. Lange Schatten tanzen hektisch an den Höhlenwänden und erinnern an den Stoff, aus dem Alpträume gemacht werden. Die Knochen des Fuchses dienen hierbei als gutes Brennmaterial. Normal würde Estarossa sie ebenso verspeisen, oder an einem Kuriositätenhändler verkaufen, doch in dieser Nacht, werden sie ihn warm halten. So schafft er es doch noch ein wenig einzudösen und zumindest ein wenig neue Energie zu tanken. Kaum spitzt die Sonne über den Horizont, macht sich Estarossa wieder auf den Weg. Er will bis zum nächsten Sonnenuntergang unbedingt eine warme Unterkunft beziehen. Das Wams hält ihn einigermaßen warm, dennoch ist ein warmer Pelzmantel keine schlechte Idee. Bei diesen eisigen Temperaturen, fällt ihm das fliegen schwer. Unbarmherzig, bläst ihm der Wind kalt ins Gesicht und nur die warmen Strahlen der Sonne verhindern, dass keine Eisblumen an ihm wachsen. Langsam flachen die Berge ein wenig ab und führen in ein Tal herunter. In der Ferne, kann der Dämon den Umriss eines kleinen Dorfes sehen. „Na endlich...", brummt er. Nachdem er fast den ganzen Tag durchgeflogen ist, ist er am Ende seiner Kräfte. Um keine Massenpanik auszulösen, lässt er vor dem Dorf seine Schwingen und seine dämonischen Merkmale verschwinden. Schließlich macht er sich auf die Suche nach einer Unterkunft, um dort die Nacht zu verbringen.

Natalia zieht sich ihren Mantel und warme Schuhe an. Sie schenkt ihrem Großvater ein Lächeln, der noch am Tisch sitzt und in aller Ruhe seinen Tee trinkt. „Bitte hetze dich nicht und lass dir Zeit,, Großvater." Johann nickt ihr zu und steckt sich ein Stück Käse in den Mund. „Und du überanstrenge dich nicht, meine Kleine." Da muss sie herzlich lachen. „Keine Sorge, ich schaffe das schon." Die Farmerin wendet sich ab und öffnet die Tür, da bekommt sie ganz große Augen. Eine weiße Schneedecke hat sich über die Weide gelegt. „Es hat die ganze Nacht geschneit", sagte sie aufgeregt. Natalia hat schon als Kind Schnee sehr geliebt, also hat sie Hannah überredet, mit ihr nach der Arbeit einen Schneemann zu bauen. Natalia fühlt sich für einen kurzen Moment wieder wie ein Kind. Aus der Vorratskammer, hat sie eine Karotte geholt und will diese dem Schneemann an einer unvorteilhaften Stelle in den Körper drücken. Das beschert Johann einen Lachanfall und Hannah schüttelt daraufhin nur den Kopf. „Willst du uns damit etwas sagen, Kind?" Daraufhin errötet sie leicht und spielt verlegen mit einer losen Haarsträhne. „Tut mir Leid...da muss wohl das Kind in mir herausgekommen sein." Sie steckt dem Schneemann die Karotte ins Gesicht und blickt zur untergehenden Sonne. „...Glaubst du, dass es ihm gut geht?" Dieser Winter ist wirklich unglaublich kalt, doch Hannah nimmt ihre Hand. „Natürlich geht es ihm gut. Das Silberlöckchen lässt sich so schnell nicht töten." Sie schenkt ihrer besten Freundin ein dankbares Lächeln. „Gehen wir ins Haus zurück. Nicht, dass du noch krank wirst."

Beim Abendessen ist Natalia sehr still und scheint über einige Dinge nachzudenken, doch plötzlich bricht ihr Opa das Schweigen. „Natalia? Ich wollte dir schon seit einiger Zeit eine Frage stellen." Die Farmerin blickt auf und schenkt ihm all ihre Aufmerksamkeit. „Was gibt es denn, Großvater?" Johann legt seine Gabel zur Seite und blickt ihr tief in die Augen. „...Dein Freund Estarossa...ist ein Dämon...oder?" Überrumpelt, lässt sie die Gabel fallen und starrt ihn an. Ihr Herzschlag beschleunigt sich und ihr Hals zieht sich ein wenig zusammen. Kurz darauf senkt sie den Blick. „...Wie lange weißt du es schon?" Im Blick von Johann liegt nichts, außer tiefe Liebe zu seiner Enkelin. „Schon seit ich ihn das erste mal getroffen habe. Als ich etwa so alt war wie du, vielleicht ein bisschen jünger, habe ich zum ersten mal einen Dämon getroffen. Er hat sich in den Bergen verlaufen und ich habe ihn mit auf das Festland genommen. Estarossa konnte zwar seine Merkmale vor mir verbergen, aber seine Ausstrahlung nicht." Verblüfft über die Tatsache, dass ihr Opa schon einmal einen Dämon getroffen hat, lauscht sie gespannt seiner Geschichte. „Und dann?" Er schüttelt den Kopf. „Irgendwann ist er gegangen und wir haben uns nie wieder gesehen. Durch diese Erfahrung, hatte ich sofort geahnt, dass er kein Mensch ist. Natürlich habe ich mir nichts anmerken lassen." In dieser Nacht ist Natalia ziemlich aufgewühlt. Sie hatte ihrem Großvater bewusst nicht gesagt, was Estarossa ist, dabei hat er es die ganze Zeit gewusst. Dennoch beruhigt dieser Gedanke sie ein wenig, weshalb sie einmal seufzt und doch noch Ruhe findet.

Natalia lässt sich die warme Sonne ins Gesicht scheinen. Der Winter ist vorbei gezogen und das Frühjahr legt seinen Schleier über das Land. Acht Monate sind vergangen und ihr runder Babybauch ist nun wirklich nicht mehr zu übersehen. Die Farmerin ist hochschwanger und wird in zwei oder drei Wochen ihr Kind bekommen. Daher hat sie absolutes Arbeitsverbot. Jeden Tag denkt sie an Estarossa, fragt sich wie es ihm geht und wo er wohl sein mag. „Träumst du schon wieder?" Hannah setzt sich neben sie und reicht ihr eine Tasse heißen Tee. „Oh...danke", sagte sie und legt ihre Stricksachen zur Seite. Sie nimmt vorsichtig einen Schluck und zuckt dann zusammen. „Hannah...fühl mal", sagte sie und legt ihre Hand auf ihren Bauch. Ihr Kind ist in letzter Zeit sehr aktiv und bewegt sich viel. Hannah kann es treten spüren. „Muss sich seltsam anfühlen, dass dich etwas von innen tritt." Manchmal kann man sogar sehen, wie das kleine Leben in ihrem Körper herumtobt. „Ich würde es nicht als seltsam, sondern eher als einzigartig beschreiben", seufzt Natalia glücklich. Verträumt, richtet sie ihren Blick in den Himmel und genießt die Wärme der Sonne auf der Haut. „Genießt du den Sonnenschein, Natalia? Nicht nur du bist froh, dass der Winter vorbei ist. Die Kälte ist mir irgendwann tief in die Knochen gekrochen." Johann legt die Axt ab und stützt sich auf dieser ab. „Bald ist es soweit. Ich bin wirklich schon sehr gespannt, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist." Diese Frage hat sich Natalia auch schon mehrmals gestellt. Es ist ihr absolut egal, hauptsächlich es ist gesund. Liebevoll, streicht sie sich über den Bauch. „Nun...ich denke, dass wir nicht mehr lange warten müssen, Großvater."


Mein Freund, der DämonWhere stories live. Discover now