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Sarah

Die Tage, die ich ohne Kai verbrachte verstrichen nur sehr langsam. Ich machte meine Arbeit, ging meinen Terminen Pflichtbewusst nach und zeichnete und organisierte alles, was musste. Es war mir auch zwischendurch möglich, Kai zu vergessen, aber ich hielt es nie lange aus, ohne an seine schönen Augen oder seine Lippen auf meinen denken zu müssen. Einmal war ich sogar kurz davor, mir ein Interview von ihm anzusehen, einfach um seine Stimme zu hören, sein atemberaubendes Lächeln zu sehen und seine Lache zu hören. Doch ich tröstete mich damit, heute mit ihm zu telefonieren und mir von seinem Tag erzählen zu lassen. Es war nicht das gleiche, wie ihn persönlich zu sehen, doch Kai sagte mir, wie sehr er mich vermisse und auch das tröstete mich ein wenig. 
Am Freitag, dem Tag des Spiels, brachte ich einfach irgendwie alle Termine hinter mich, mit dem klaren Ziel Kai heute im Fernseher zu sehen.
Nachdem ich mich Abends endlich gerichtet hatte und Kai noch eine Nachricht geschrieben hatte, in der ich ihm viel Glück gewünscht hatte und bescheid gesagt hatte, dass ich jetzt zu meinen Eltern fuhr, stieg ich in mein Auto. Erst jetzt fragte ich mich, wie es wohl sein würde, das Spiel gleich mit meinen Eltern und Lina anzusehen, in dem Wissen, dass da nicht nur mein Bruder, mein bester Freund sondern auch mein fester Freund mitspielten. Ich fragte mich, ob meine Eltern sich jetzt anders verhalten würden, doch ich wusste es nicht.
Nachdem ich Lina und die kleinen abgeholt hatte und alle sicher im Auto verstaut waren, fuhren wir zu meinen Eltern, während Lina mir von ihrem Tag erzählte und was Jaron heute alles so angestellt hatte. Immer wieder musste ich lachen und sah durch den Rückspiegel nach hinten, um mein kleines Patenkind zu sehen, der gerade ein Bilderbuch ansah, neben ihm, ebenfalls im Kindersitz die kleine Levia.
Meine Eltern hatten uns wie immer herzlich begrüßt und bald nahmen wir zusammen am Tisch Platz und aßen gemeinsam, während wir uns ungezwungen unterhielten. Ich fühlte mich wohl in meiner Familie, hatte nicht das Gefühl, mich verstellen zu müssen und automatisch fragte ich mich, wie Kai hier wohl reinpassen würde.
Nachdem ich meiner Mutter mit dem Geschirr geholfen hatte, während Lina und mein Vater mit den Kleinen spielten, erzählte sie mir, gerade etwas darüber, wie sehr Levia mir ähnelte und, dass ich genauso aussah, wie sie als Kind. Ich spührte die Liebe zu ihren Enkelkinder mit jedem Wort, dass sie sprach. Sie lächelte auf eine so besondereweise und auch ich fühlte mich dadurch geliebt, während sie davon erzählt, wie gerne sie mir mit meinen dünnen, hellen, blonden Haaren Zöpfe gemacht hatte, genauwie Levia sie heute trug.
Mütterliche- und bei meiner Mutter jetzt sogar Großmütterlicheliebe, ist etwas ganz besonderes und ich fragte mich, ob ich auch eines Tages so reden könnte, über meine eigenen Kinder, die ich so gerne haben wollte.
Ohne, dass ich es kontrollieren konnte, malte ich mir aus, wie es wohl sein würde, wenn Kai der Vater meiner Kinder wäre, er wie er mit unserem Sohn, der die gleichen grünen Augen hatte, wie Kai selber, Fußball spielt, ich, wie ich unsere Tochter im Arm trug, die genauso dunkle, leicht lockige Haare besitzt, wie er. Bei dieser Vorstellung musste ich aus tiefsten Herzen Lächeln und meine Augen füllten sich automatisch mit Tränen. Ich wusste nicht, was diese Tränen zu bedeuten hatten. Nie zuvor hatte ich solche Gedanken mit jemandem gehabt, nie konnte ich mir eine Zukunft mit jemandem vorstellen.
Doch bei Kai war das anders, ich konnte mir nämlich schlicht ergreifend einfach keine Zukunft ohne ihn vorstellen.

Kai war nicht bei der Startelf mit dabei, er saß jedoch auf der Bank, was bedeutete, er könnte heute eingewechselt werden. Die Nationalspieler machten sich gerade warm, unter ihnen mein Bruder und Julian, die beide aufgestellt waren, als meine Mutter sich ebenfalls zu uns aufs Sofa quetschte. Ihre Aufmerksamkeit hatte sie auf Jaron und Levia gerichtet, weshalb sie auch ganz überrascht war, als die Nationalmannschaft einlief und direkt mit der deutschen Nationalhymne begannen. "Und spielt dein Kai?" , fragte sie mich und stupste mich leicht an.
Ich schüttelte nur den Kopf und hörte Jaron zu, wie er gerade Lina erklärte, was er gebaut hatte.
Meine Mutter beließ es dabei und richtete ihren Blick auf den Bildschirm. Ab dem Moment, an dem das Spiel beginnt, durfte man laut meinem Vater nichts mehr sagen. Nur wichtige Kommentare seinerseits waren natürlich erlaubt. Also richtete auch ich meinen Blick auf das Spiel.
Jedoch bereits in der 7. Minute schossen die Nordiren ein Tor, was meinem Vater nach: "schon lange vorhersehbar war". Goretzka hatte den Ball im Strafraum verloren und diese Gelegenheit hatten sich die Gegner nicht entgehen lassen und versenkten den Ball zielsicher im Tor.
Die Kamera zeigte Jogi Löw, der gerade den Spielern irgendetwas vom Seitenrand aus, zu rief. Jetzt sah man ihn und sofort begann mein Herz zu schlagen.
Kai saß auf der Bank, neben ihm Klostermann, beide in eine dicke Jacke eingepackt und beide den Blick hoch konzentriert auf das Spiel gerichtet. Ich konnte nicht anders und musste ein wenig lächeln.
Ich versuchte mich wieder auf das Spiel zu konzentrieren, als die Deutschen gerade den Ball eroberten, ihn jedoch schnell wieder verloren. Ich wusste es zuvor nicht, aber die Nordiren machten gerade ganz gute Arbeit. Es wirkte, als müssten sich die Deutschen erst einspielen, erst warm werden. Denn in der 19. Minute schoss Goretzka dann den Ausgleich zum 1:1, was er gebührend feierte. Offenbar wollte er seinen zuvor begangenen Fehler wieder gut machen, was gelungen war. Jetzt waren die Deutschen wach. Sie spielten genauer, passten kontrollierter, doch ihnen gelang kein weiterer Treffer.
Erst in der 43. Minute, kurz vor der Halbzeit, trifft Serge Gnary doch noch durch eine Ecke, geschossen von meinem Bruder. Mit dem Stand von 1:2 , ging es also in die Halbzeitpause und die Nationalspieler verschwanden in den Katakomben.
Kai hatte man das ganze Spiel über nicht mehr gesehen, nicht mal im Hintergrund, wenn der Trainer gezeigt wurde.
Ich hoffte für ihn, er würde in der zweiten Halbzeit eingewechselt werden. Erst heute Morgen, nach meinem Termin bei Marie und Nick, dem jungen Ehepaar, hatten wir telefoniert und er hatte mir gesagt, wie gerne er spielen würde. "Das wird schon alles gut werden. Und auch wenn du nicht eingewechselt wirst, bin ich super stolz auf dich!", hatte ich gesagt, woraufhin Kai lachen musste.
Nachdem wir uns alle etwas zum Trinken nach geschenkt hatten, liefen die beiden Mannschaften bereits wieder ein und das Spiel begann wieder. Zur Pause hatte es keine Wechsel gegeben. Das Spiel lief jetzt klar aus den Händen der Deutschen. Und bereits 2 Minuten nach Anpfiff, schoss Gnabry auch schon das nächste Tor und nur 13 Minuten später legte er noch einen darauf und es stand 1:4. Jetzt konnte man uns den Sieg nicht mehr so leicht aus der Tasche nehmen.
Zur 65. Minute gab es dann doch bei beiden Mannschaften einen Wechsel. Und tatsächlich durfte Kai jetzt spielen. Mein Herz klopfte wie wild, als der Stadionsprecher seinen Namen ausrief. Nachdem er Timo Werner abgeklatscht hatte, rannte er schnellen Schrittens auf den Platz, dicht gefolt von Klostermann, der für Süle kam.
Schon wieder breitete sich dieses komische Gefühl in mir aus, als ich Kai auf dem Platz stehen sah. Er war wirklich mein Freund!
"Na, da sind wir jetzt aber mal gespannt." , sagte meine Mutter und wackelte mit den Augenbrauen. Lina, welche jetzt die kleine Levia auf dem Schoß hatte, da diese müde war, und ich mussten lachen, während mein Vater nur den Kopf schüttelte.
Ich glaubte nicht, dass in diesem Spiel noch viel passieren würde, doch in der 73. Minute fiel das 1:5 durch Leon Goretzka. Man merkte, wie die Nordiren bereits aufgegeben hatten und es nicht mal mehr versuchten, Tore zu erzielen, was ich ziemlich traurig fand. Natürlich freute ich mich über den sehr wahrscheinlichen Sieg der Deutschen, doch mir taten die Iren auch leid. Es war bestimmt nicht leicht bei so einem Torestand, noch ordentlich zu spielen.
Immer wieder bekam Kai den Ball und passte ihn geschickt weiter. Ich fand es toll, wie er ins Spiel eingebaut wird, wie er mit den anderen Spielern interagierte. Und natürlich besonders mit Julian. Als dann der Schiedsrichter 2 Minuten Nachspielzeit anzeigte, eroberte mein Bruder sich den Ball, passte zu Goretzka, der zwei Iren austribbelte und dann eine Flanke zu Kai schoss, der nun mit dem Ball in Richtung Strafraum rannte. Ich setzte mich gerader hin, geleitet von der Spannung, die sich in mir breit machte. Und plötzlich stand Kai vor zwei Gegnern, die er jedoch innerhalb von Millisekunden ausgetrippelt hatte, was mich staunen ließ. Er schoss eine schöne Flanke, die Julian schließlich mit einem hohen Sprung reinköpfte. 1:6!
Die Nationalmannschaft rannten zu Julian, der Kai gerade auf den Rücken klopfte und ihn anstrahlte, was Kai erwiderte. In mir breitete sich eine Wärme aus, als ich sah, wie die Jungs sich in den Armen lagen, als der Schiedsrichter schließlich Abpfiff und das Spiel für beendet erklärte. Alle strahlten sich gegenseitig an, umarmten sich und freuten sich über diesen Sieg, und Kai mittendrin.

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