Kapitel 5.5

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~Cleo


,,Verdammt, Seth, was ist zwischen euch vorgefallen? Warum macht dich das so fertig?"

Ich hatte Seth noch nie... so erlebt. So verstört, verletzlich. Ich hatte das Gefühl, dass wir reden sollten. Dass er reden musste- über alles.

Seth starrte mich an und schwieg.

,,Seth", sagte ich leise, aber eindringlich. ,,Was ist damals passiert?"

Er schloss die Augen und holte tief Luft. ,,Meine Mutter wollte mich nie. Sie hat bereut, was zwischen Hades und ihr gelaufen ist und vor allem das, was dabei herausgekommen ist. Das hat sie mir gezeigt, sie hat kein Geheimnis daraus gemacht. Manchmal war ich ihr durchaus nützlich, um mich bei Freunden herumzuzeigen oder mit mir anzugeben. Ihr hübsches Kind mit den goldenen Locken und den lila Augen. Man hat mich bewundert, angetatscht wie ein wertvolles Haustier, danach reichte es dann auch wieder und ich wurde weggeschickt. Ich war ein hin und wieder nützliches Anhängsel, das bitte den Mund zu halten und nicht weiter auffällig zu sein hatte." Er vermied es mich anzusehen und strich sich mit der Hand durch das Haar. ,,Aber so war ich nicht. Noch nie. Am Anfang vielleicht, aber ich war nicht blöd und ich habe gemerkt, dass meine Mutter mich nicht haben wollte. Ich hab nicht länger versucht, mich anzupassen. Eher habe ich es darauf angelegt. Viele Leute haben meine Ansichten und meine Art zu leben nicht gut aufgenommen. Mich hat es nie interessiert, was andere Leute von mir denken. Warum auch, wenn sich nicht mal meine Mutter für mich interessiert hat? Hab mich in der Schule dauernd geprügelt, dutzende Gespräche geführt, bin das klassische Problemkind gewesen. Mit acht habe ich dann erfahren, dass ich ein Halbgott bin, aber geändert hat das nichts. Ich war ein Halbgott, aber meine Mutter hat mich trotzdem über den Globus gezerrt, immer dorthin, wo sie gerade einen neuen Liebhaber hatte. Ich spreche russisch, ukrainisch, schwedisch und griechisch, habe in allen möglichen Ländern schon mal gelebt. Ich wollte das nie, aber wohin hätte ich schon gehen sollen?"

Seine Hand schob sich erneut in sein Haar und krallte sich darin fest. Ich sah ihm an, wie schwer es ihm fiel darüber zu sprechen, gleichzeitig wirkte er beinahe... erleichtert. Als hätte er all die Jahre einfach mal mit jemandem darüber sprechen sollen. ,,Ich war zehn, als wir von Kalifornien nach Russland gereist sind. Kam mir vor wie eine völlig andere Welt. Viele engstirnige Menschen, mit denen ich absolut nicht klar gekommen bin. Ich habe trainiert. Viel. Um mit der ganzen Wut, dem ganzen Frust irgendwie klarzukommen. Aber ich... ich hab einfach nicht dorthin gehört. Die Menschen dort haben mich - die Art und Weise, wie ich geredet habe, wie ich aussah- nicht gut aufgenommen. Ich hatte keine Freunde, hab dauernd mit allem und jedem Stress angefangen und das Einzige, das meine Mutter daran interessiert hat war, dass man deshalb immer Gespräche mit ihr wollte. Fand sie ziemlich nervig. Meine Existenz war ihr im Allgemeinen einfach viel zu präsent. Von Russland ging es dann weiter nach Kiev, in die Ukraine. Wieder ein neuer Liebhaber, hat genauso lange gehalten wie die letzte Beziehung. Zwei Jahre, dann wurde Klein-Seth nach Schweden verschifft, weil da so ein toller blonder Schwede war, den meine Mutter interessant fand." Seth sah zu mir auf. ,,Ich bin zu einem Teil Schwede, wusstest du das?"

,,Nein", murmelte ich. Mehr sagte ich nicht, da ich Angst hatte, dass er sonst aufhörte, zu erzählen.

Seth starrte mich an und schien gleichzeitig durch mich hindurch zu sehen. ,,In Schweden waren wir nicht lange, ein halbes Jahr vielleicht, dann mussten wir unbedingt nach Griechenland, weil... ja. Meiner Mutter ist dann aber eingefallen, dass sie Griechenland doof findet, weil es sie an meinen Vater und meine Göttlichkeit erinnert, deshalb ging es dann zurück nach Kalifornien. Die ganzen Stachelhalsbänder, die langen Haare, die schwarzen Klamotten, das war Klein-Seths Versuch Aufmerksamkeit zu bekommen. Meine Mutter wollte mich nicht haben, hat meine Existenz verdrängt, also hab ich ihr Gründe gegeben, sich über mich aufzuregen. In solchen Momenten hat sie sich dann doch für mich interessiert, wo ich doch ihr niedliches, hübsches Kind, ihr Plüschtier zum Angeben und Herumzeigen war."

Einen Moment wusste ich nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich war geschockt. Fassungslos. Aber es erklärte so vieles. Warum er so unnahbar war. Warum er niemandem vertraute. Weshalb er nie über seine Vergangenheit sprechen wollte. Sie machte ihn verletzlich, sie zeigte, dass er schlussendlich doch nur ein Kind gewesen war, das sich nach Liebe und Anerkennung gesehnt hatte. Mir tat leid, was er hatte durchmachen müssen. Denn ich sah, was es mit ihm gemacht hatte. Ich streckte den Arm aus und berührte ihn an der Schulter. ,,Seth, es tut mir so-"

Ruckartig sprang Seth auf und ballte die Hände zur Faust. ,,Wage es nicht zu sagen, dass dir das Leid tut", fauchte er. ,,Es ist passiert. Vorbei. Was damals passiert ist oder wer ich mal gewesen bin, spielt keine Rolle mehr."

Und schon wieder log er sich selbst an. Denn es spielte eine Rolle- es würde immer eine Rolle spielen. Ich kramte in meinem Hirn nach einer Antwort, die ich ihm geben konnte, aber ich fand nichts Brauchbares. Stattdessen tat ich etwas, das mir ehrlich gesagt richtige Angst einjagte. Seth war unberechenbar- ich arbeitete seit Monaten mit ihm, aber ich konnte ihn nach wie vor kein bisschen einschätzen. Ich stand auf und legte meine Arme um ihn. Zuerst stand er da, wie ein lebloser Baumstamm, aber als ich mich schließlich wieder lösen wollte, ging ein Ruck durch seinen Körper und er hob langsam ebenfalls die Arme. Es war ein seltsames Gefühl, ausgerechnet von Seth so sanft umarmt zu werden, aber es fühlte sich überraschend gut an. Als wäre es schon lange fällig gewesen. Seth legte das Kinn auf meinen Kopf. ,,Wenn du jemandem davon erzählst, bringe ich dich um", versprach er.

,,Dein Geheimnis ist bei mir sicher, Seth", versprach ich ebenfalls. Kurz verharrten wir in dieser Position, dann löste sich Seth von mir. Er blickte auf den Boden. ,,Eigentlich hat sich seit damals nichts verändert. Der Rat nutzt mich aus. Am liebsten würden sie mich loswerden, aber wenn sie einen bösen Vasanistenanführer haben, sind sie doch ganz froh, dass es mich gibt." Seine Hände ballten sich zu Fäusten. ,,Ich hab die Schnauze voll." Wer hätte das nicht an seiner Stelle? Ich hatte Seth oft darum beneidet, dass er in dieser Welt groß geworden war, dass er konnte, wovon ich kaum zu träumen wagte. Ich hatte ihn cool gefunden, obwohl er seltsam war und ich hatte angefangen, ihn zu mögen.

Aber was er durchgemacht hatte, verdiente niemand. Er war ein Halbgott gewesen, nun war er ein Gott- aber dafür empfang er nicht nur Bewunderung. Der Rat hatte ein Problem damit, wer er war. Und das hatte seine Mutter ebenfalls- ein Problem mit dem, was er war. ,,Kann ich nachvollziehen."

,,Ich weiß nicht, ob du das kannst." Er senkte den Kopf, dichte Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht und verbargen seine Augen. Es war seltsam, Seth so verletzlich zu sehen. Das allein zeigte mir, dass es ihn immer noch belastete, egal, was er erzählte. Ich seufzte. ,,Okay, das kann ich wahrscheinlich nicht. Aber ich verstehe, warum du keinen Bock mehr hast, dem Rat zu dienen. Das System ist krank und du wirst ausgenutzt. Das fände niemand cool."

Seth lief unruhig im Raum auf und ab. ,,Ich wollte nie, dass das irgendjemand über mich erfährt. Ich wollte nicht, dass die Leute mich anders sehen."

,,Ich werde niemandem davon erzählen", wiederholte ich. ,,Ich schwöre es."

Er blieb stehen und nickte langsam. ,,Ich glaube dir."

Ich holte tief Luft. ,,Und ich werde dich auch als niemand anderen als den Vollidioten, den ich kenne, sehen."

,,Wunderbar." Seth umgriff mit der Hand den Anhänger der Kette, die er von Matthew zum Geburtstag bekommen hatte - den vorderen Teil des AC/DC Logos- und spielte daran herum. Es wunderte mich ehrlich gesagt, dass er sie überhaupt trug, er schien mir nicht unbedingt der Typ für Freundschaftsketten zu sein. Das zeigte allerdings, dass Matt ihm wirklich etwas zu bedeuten schien. Er ließ nicht viele Leute an sich heran.

,,Ich muss jetzt alleine sein." Seine violetten Iriden suchten meinen Blick. ,,Danke."

Dann drehte er sich um und bevor ich noch etwas darauf erwidern konnte, hatte er den Raum verlassen und die Tür hinter sich zugezogen.

Nummer 13 - Todessohn IIWhere stories live. Discover now