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Die Sonne entscheidet sich schließlich, gänzlich durch die Wolken zu brechen und uns einen sonnigen Nachmittag zu bescheren, als wir zu dritt in Isabells kleinem Auto sitzen und zum Friedhof fahren. Ich lehne meinen Kopf gegen die Fensterscheibe und lasse das schnelle Flackern aus Schatten- und Lichtwechsel auf mich wirken, während wir durch eine Allee fahren.

Alles fühlt sich wie im Traum an. Unwirklich und zusammenhanglos.
Ich spiele an meiner Kette herum, lasse das feine Metall über meine Fingerkuppen gleiten.
Wir erreichen unser Ziel viel zu schnell und steigen aus, laufen schweigend nebeneinander auf die kleine Kapelle zu, die etwas erhöht auf einem Hügel liegt. Isabells Arm liegt schützend auf den Schultern ihrer Mutter.

Es sind nicht sonderlich viel Leute gekommen. Nur eine kleine Gruppe steht vor den hohen Holztüren und wartet auf uns.
Margret versucht mir einige der unbekannten Gesichter vorzustellen, doch ich signalisiere ihr recht schnell, dass ich keine Lust auf die gelernten Floskeln habe, die mich trösten sollen.

Ich geselle mich stattdessen zu Isabell, die am Rande des Geschehens steht und die Handvoll Menschen beobachtet.
Sie ist in einen dunkelbraunen Mantel gehüllt und presst ihre Lippen gegen den hochgestellten Kragen.
Ihre Haare wehen im seichten Novemberwind.

Ich bin dankbar für meine Wollmütze, auch wenn die Sonne meinen Rücken wärmt. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, wenn die Kälte einen nicht nur äußerlich befällt
"Die Hälfte dieser Leute hat ihn abgeschrieben, nachdem er abgehauen ist", sagt Isabell verbittert und visiert dabei einen Typen mit schwarzen Haaren an, der gerade auf ihre Mutter einredet. "Jetzt stehen sie hier und wollen sich wichtig tun und in fremden Angelegenheiten herumschnüffeln, nur weil sie die Traueranzeige in der Zeitung gesehen haben."

Ich erwidere nichts. Was soll ich auch sagen?
Ich bin von allen Anwesenden hier, diejenige, die Jace am kürzesten gekannt hat.
Wir stehen nebeneinander, ohne dass eine von uns noch etwas sagt und warten darauf, dass wir in die kleine Kapelle auf dem Friedhofsgelände eingelassen werden.

Da entdecke ich Jess auf dem kleinen Parkplatz. Sie blickt sich suchend um.
Mein Herz macht einen kleinen Satz, als ich ihre roten Haare erblicke. Ich hebe die Hand und lasse Isabell stehen, eile mit schnellen Schritten auf den einzigen Farbfleck an diesem Tag zu.
"Hey!"
Jessica fällt mir um den Hals.

Es ist das erste Mal, dass wir uns sehen seit ...
"Ich dachte schon, ich bin zu spät."
Ich drücke ihren Arm und blicke einen Moment einfach nur in ihre Augen, nachdem wir uns voneinander gelöst haben.
"Danke, dass du gekommen bist", sage ich leise.

"Bitte nicht weinen. Du weißt, dann muss ich auch gleich."
Wieder umarmt sie mich.
Mit einem Blick über ihre Schulter fällt mir auf, dass Isabell ganz alleine in der Sonne steht. Ihre Hände sind in ihren Manteltaschen vergraben, ihr Blick auf die ersten Grabsteine am Ende des Hügels gerichtet.

"Du siehst mitgenommen aus", lenkt meine Freundin die Aufmerksamkeit wieder auf sich.
"Und ich weiß, dass das noch nett ausgedrückt ist", entgegne ich und versuche dabei wenigstens etwas ironisch zu klingen, bin aber genauso monoton wie in den letzten Tagen.
"Du hast schöne Trauerkarten ausgewählt", wechselt Jess dann das Thema und streicht mir über die blasse Wange.

Ich blinzle ins Licht.
"Danke. Minimalistisch. Kein Schnickschnack und nichts aus der Bibel", zitiere ich Jaces Worte mit einem dumpfen Druck auf der Brust.
Jessica lächelt mich an. Doch selbst in ihrer Mimik liegt eine Schwere, die man nicht übersehen kann.

Nach einer Weile bewegen wir uns in das feuchte Gemäuer. Ich nehme in der ersten Reihe neben Margret und Isabell Platz.
Mir wird klar, dass ich nach diesem Nachmittag nichts mehr zu tun haben werde. Es wird keine Aufgabe mehr geben, die ich abarbeiten muss.

Ich werde mich mit keinem Floristen über die Dekoration aus grünen Pflanzen und den Grabschmuck streiten müssen.
Ich muss mich um keine Musikauswahl mehr kümmern und keinen Grabplatz gemeinsam mit den beiden Frauen neben mir aussuchen.
Ich werde in ein Loch fallen, ins Nichts.

Die letzte Aufgabe, die sich mit Jaces Tod ergeben hat - seine Beisetzung -, ist nach dem heutigen Tag abgehakt, ich habe meinen Teil beigetragen und bin entlassen.
Ein schmales Lächeln ziert meine Lippen, als ich auf der kalten Bank sitze und mich umblicke.
Jace wäre zufrieden mit seiner Beerdigung.

Alles ist mit grünen Farnen geschmückt, es gibt nur einen Kranz aus weißen Rosen, der vorne auf einer Steinstufe unter einem großen Foto von Jace lehnt.
Es ist mein Lieblingsbild von ihm. Es zeigt ihn unter der alten Eiche. Sein Rücken gegen die grobe Rinde gelehnt, das entspannte Gesicht zum Himmel, Richtung Sonne gerichtet.
Das erste Bild, das ich von ihm gemacht habe.

Ich verflechte meine Finger ineinander und schaue auf den grauen Steinboden.
Ein Schniefen zu meiner Rechten lässt mich aufblicken.
Margret betrachte das Foto und tupft sich die Augen mit einem Stofftaschentuch. Für sie muss die Leinwand einen Jace zeigen, der ihr fast unbekannt ist.

In diesem Augenblick hat sie nichts gemeinsam mit der enthusiastischen Frau, die mir und dem Jungen auf dem Bild die Tür aufgemacht hat, uns anstrahlte und mit ihrer Lebensenergie angesteckte.
Aber ich denke, ich werde sie auch nicht mehr an das Mädchen erinnern, das am Tag unserer ersten Begegnung an der Seite ihres Sohnes stand.

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Song: Eiserner Steg - Philipp Poisel (also ich höre nicht viel auf Deutsch, aber das ... Das schon.)

Hello,
ich will immer einen Smiley hinter "Hello" machen, aber dass ist in letzter Zeit so unpassend.
Ich möchte an dieser Stelle einfach mal was loswerden: Ich hatte heute nicht den besten Tag & bin auch gestern mit dem Schreiben nicht fertig geworden, was doppelten Stress und nicht die beste Laune bedeutet.

Aber als ich eure Kommentare von gestern durchgelesen habe, ging es mir gleich viel besser. Sie haben mich motiviert und auch in gewisser Weise inspiriert bzw. die Blockade in meinem Kopf gelöst.
Also (zum zehntausensten Mal) danke, an jeden einzelnen, der einen Kommentar hinterlassen hat - wann auch immer. That shit means a lot to me <3

All my Love,
Lisa xoxo

P.S. Seit froh, dass das Kapi geteilt wurde, weil so habt ihr 2 Songs, die ihr beim Lesen hören könnt, die PERFEKT passen. k, bye :)

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt