49.

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Ich vermisse ihn.
Etwas das ich nicht mehr leugnen kann. Aber ich kann es auch niemandem gestehen.
Ich kann Mirella am Frühstückstisch nicht von meinem schlechten Gewissen berichten, Jace auf dem Parkplatz des Gunflilnt Trail Parks zurückgelassen zu haben. Mit dem Wissen, dass ich in ein Haus zurückkehrte und er unter eine Brücke.

Ich kann Benno nicht um Rat fragen, wie ich am besten den ersten Schritt mache.
Ich kann ihn auch nicht fragen, ob sich jeder Mann so wie Jace verhält.
Ich kann von meinem Dad keine Predigt über Vorsicht und die Jugend von heute erwarten. Wenn er von Jace erfahren würde, würde er mich wahrscheinlich den Rest meines Lebens einsperren.

Und ich kann meine Mutter nicht fragen, wie sie sich gefühlt hat, als sie das erste Mal verliebt war.
Verliebt.
Bei diesem Wort beiße ich mir hart auf die Unterlippe und rechne jeden Moment damit Blut zu schmecken.

Und AJ und Jess ...
Ich beobachte die Beiden, wie sie über den Englisch-Büchern hängen.
Ich kann die Worte nicht finden, ihnen von Jace zu erzählen. Zumal AJs abfällige Bemerkungen über Ungeziefer und Penner immer noch einen bitteren Nachgeschmack haben.

Ich habe die ungute Vorahnung, dass sie mich nicht verstehen würden.
Aber vielleicht liege ich auch falsch?
Ich seufze laut und ziehe damit mehr Aufmerksamkeit auf mich, als ich beabsichtigt habe.
"Hast du etwas Produktives beizusteuern?", fragt Jess schnippisch.

Immer, wenn der Prüfungsstress ins Haus steht, ist sie unheimlich gereizt.
Ich schüttle den Kopf.
Ich werde die Prüfungen mit Mühe und Not bestehen und die Missgunst meines Vaters über mich ergehen lassen müssen. Mit diesem Szenario habe ich mich bereits abgefunden.

Wenn ich Zeit zum Lernen habe, kann ich mich nicht auf die Buchseiten konzentrieren.
Ich zerbreche mir den Kopf über Jaces Situation und wie ich ihm helfen könnte.
Jede Idee kommt mir unglaublich utopisch und naiv, unumsetzbar vor.
Aber ich will eine Lösung finden.

Und mein Kopf wird nicht eher Ruhe geben, bis ich eine gefunden habe.
"Träumerin!"
Bei AJs lauter Stimme zucke ich zusammen.
"Anwesend."

"Du bist dran. Deine Interpretation zum Zitat."
Und so geht es den ganzen Nachmittag.
Doch ich spüre die weichen Grashalme unter meinen Händen, wenn ich sie über Jess' Teppich gleiten lasse.

Ich empfinde die wärmenden Sonnenstrahlen auf meinen Wangen nach und erinnere mich an das beruhigende Rauschen über unseren Köpfen, wann immer sich der Wind in den Höhen der Eichen verfangen hat.
Über Jaces und meinem Kopf.

Mit diesen Erinnerungen überdauere ich die restliche Woche, bis mir an einem Nachmittag unbekannte Stimmen aus dem Wohnbereich unseres Hauses entgegenschallen.
Stimme, die mir unbekannt sind und dennoch altbekannte Emotionen in mir auslösen.
Ich halte inmitten der Eingangshalle inne und lausche.

Männerstimmen. Drei, vielleicht vier unbekannte neben dem deutlichen Bariton meines Vaters.
Er hat also mal wieder Geschäftspartner eingeladen.
Ich lasse meine Tasche sachte zu Boden sinken und nehme einen Schatten aus dem Augenwinkel wahr.

Mirella huscht mit einem Silbertablett Richtung Wohnzimmer. Als sie mich erblickt, leuchtet ihr Gesicht in Erleichterung auf.
"Ophelia! Wie gut, dass du endlich nach Hause kommst."
Ihr sonst so angespannter Mund, wenn mein Vater Gäste empfängt, lockert sich, um mir ein warmes Lächeln zu schenken.

Doch so schnell dieses auf ihren gealterten Zügen erschienen ist, so schnell ist es auch wieder verschwunden.
Ich blicke zur großen Standuhr unterhalb der Treppe. Ich bin pünktlich. Wie fast immer.
"Dein Vater braucht dich."

Als sie bemerkt, wie ich zögere und Widerwillen sich über meinem Antlitz breit macht, nickt sie energisch in Richtung der brummenden Stimmen.
"Na los", flüstert sie aufmunternd.
Sie hat ihre Pflichten zu erfüllen und ebenso habe ich es zu tun - jedenfalls ist das ihre Auffassung der Dinge.

Das war schon immer so und diese Ideale haben letzten Endes auch dafür gesorgt, dass sie bereits über zwanzig Jahren bei uns angestellt ist.
Sie hat ja keine Ahnung, was diese Pflichten mit mir anstellen. Oder sie kann es ahnen, aber weiß, dass sie die Tatsachen nicht ändern kann.

Und deswegen lächelt sie.
Sie lächelt, als sie mit mir im Schlepptau den gut gefüllten Raum betritt.
Sie lächelt, als die das Tablett serviert und sie lächelt, als sie nach einem höflichen Knicks kurz in die Runde aufblickt und sich dann wieder entfernt und mich zurücklässt. In der Höhle der Löwen.

Meine Zunge fährt an meinen Schneidezähnen entlang, bevor ich mir ein Lächeln abringen kann.
Die Gespräche werden nicht unterbrochen, ich werde mit keinem Blick gewürdigt.
Erst als ich näher an den Glastisch trete, an dem sich die vier fremden Männer in ihren grauen Anzügen versammelt haben, und mein Vater sein Scotch-Glas absetzt, aufsieht und einen freudigen Ton ausstößt, erst dann fallen ihre unruhigen Augen auf mich.

"Mein Spätzchen! Komm zu uns!"
Und an seine Partner, potenziellen Partner, Freunde - oder was auch immer diese Männer für ihn sind - , gewandt, sagt er: "Meine Tochter. Eine exzellente Studentin und - wenn ich das sagen darf - kommt ganz nach ihrem alten Herren."

Seine blauen Augen landen auf mir, verengen sich kaum merklich, als ich keine Anstalten unternehme, mich zu ihm zu gesellen und das gesellschaftliche Protokoll über mich ergehen zu lassen.
Ich nicke lediglich einmal in die Runde.

"Meine Herren. Ich werde hochgehen, ja Dad? War ein langer Tag und ich -"
"Aber, aber. Ich habe doch groß Werbung mit dir gemacht und erzählt, wie sehr du unsere Sitzung erfrischen würdest, wenn du erstmal nach Hause gekommen bist."
Ein Mann mit längeren schwarzen Haaren hustet verhalten und vertieft dann seine Nase im Kristall meiner Mutter.

"Wie gesagt, ich habe andere Pläne. Schöne ... Sitzung dann noch."
Mein Herz pocht wie wild, als ich das Wohnzimmer verlasse und beinahe rutsche ich auf den glatten Fließen aus, weil meine Knie so weich geworden sind.
Das war das erste Mal seit ich denken kann, dass ich mich meinem Vater widersetzt habe.

Ich presse meine Handflächen gegen mein erhitztes Gesicht.
Verdammt.
Ein breites Lächeln ersetzt das erzwungene und Stolz erfüllt mich.
Doch ich schaffe es nicht mal bis zur Treppe, da höre ich schon die steifen Schritte meines Vaters.

"Was erlaubst du dir?!", zischt er.
Ich schaue ihn nicht an, starre lieber auf sein perfekt gebügeltes Hemd.
"Dad, ich habe doch gesagt, dass ich -"
"Ja, aber du weißt doch, dass ich dich als meine Stütze brauche, Spätzchen. Und ein bisschen dazusitzen und zu lächeln und auf ein paar Fragen zu antworten, das ist doch wohl wirklich nicht zu viel verlangt."

Ungläubig sieht er mich an.
Ich kaue an meiner Unterlippe. Er hat ja keine Ahnung.
Jedes Mal kommt es mir so vor, als würde ich mich verkaufen. Ich kenne Blicke von solchen Männern und ich kann in ihren Augen sehen, was sie denken, wenn sie mich ansehen.

Sie sehen sein Stück rohes Fleisch, das die Runde schmückt, über das man sich hinter vorgehaltener Hand lustig machen kann, dem man im Vorbeigehen einmal ganz unbedacht über die Schulter fahren oder ein Kompliment zum Kleid machen kann.
Ich beiße die Zähne so fest zusammen, dass sich ein ziehender Schmerz in meinen Schläfen sammelt.

"Ich gehe jetzt. Viel Spaß noch."
"Das ist nicht meine Tochter."
Bei seinen Worten halte ich inne. Ich tue genau das, was er will. Alte Angewohnheiten kann man eben nicht so einfach ablegen.

Ich werfe ihm einen schnellen Blick zu, sehe das schiere Erstaunen auf seinem Gesicht und die Falten zwischen seinen Augenbrauen.
"Hat Ben dir -"
"Es recht", unterbreche ich ihn.

"Akzeptiere ein Nein."
Und dann gehe ich.

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Song: Try - Pink (Acoustic)

Hi

Ich bin müde. K bye, hoffe, euer Tag war besser als meiner :/

All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt