Epilog

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Avis (Jaydens älterer Bruder):
Immer noch höre ich die Stimme, des Mädchens, die nach meinem Bruder rief. Ich dachte erst, dass ich es mir nur vorgestellt habe. Aber als ich mich umdrehte, kam sie mir freudestrahlend entgegen. Ihren Augen konnte ich eine bodenlose Erleichterung und Freude ansehen. Doch im nächsten Moment fielen all die Glücksgefühle, die wie die Sonne strahlten, von ihr ab. Enttäuschung machte sich in ihr breit und traf sogar mich. Nachdem mein Vater mich gerufen hatte, glitzerte wieder etwas in ihren Augen auf. Die Flamme, die kurz davor war zu erlösen, loderte wieder leicht auf. Als sie mich erneut nach meinen Brüdern fragte, wurde mir bewusst, dass es kein Zufall war, dass ich den Namen meines Bruders hörte.

Doch das Kleid, das sie trug, war eindeutig zu fein für eine normale Bürgerin. Der Stoff, die kleinen Stickereien, so etwas kann sich nicht einmal jemand in Amrox leisten. Als mein Blick dann auch noch auf die Palastwachen traf, wurde mir bewusst, dass es sich, um ein Mitglied der königlichen Familie Evrem handelt. Doch woher kannte sie meine Brüder? Hatte sie damals meinen Bruder im Palast getroffen? Er hatte mir einst von dem Jährlichen-Ball erzählt und wie die Königsfamilien und Menschen aus all den Ländern dafür anreisen. Kannte sie ihn daher? Mir ist bewusst, wie ungern es gesehen wird, wenn Ramir auch nur einen Obersten ansehen. Ich kann mir gut vorstellen, was es in Evrem für Konsequenzen haben könnte, mit einem Mitglied der Königsfamilie zu sprechen. Weshalb ich schnell in der Menschenmenge unterging. Doch im Schutz der Menschenmasse behielt ich meinen Blick auf sie gerichtet.

Ich erkannte, wie etwa des vorigen Glücks, wieder in ihre Augen fiel und sie sich erhobenes Haupts von den Wachleuten hat führen lassen. Als mein Blick in die Augen, des Thronerbens Evrem traf, machte ich mich aus dem Staub. Ihn kenne ich. Jeder kennt ihn am Hafen. Jeder weiß sich vor ihm zu hüten. War sie seine Schwester? Familien Ähnlichkeit hatten die beiden nicht wirklich. Auch kann es sich nicht um einen Ari handeln, denn auf ihrem Arm waren keine Brandmale. Vielleicht die Verlobte von der man Gerüchte hörte. Wenn man dem Bar-munkeln glauben konnte. Doch die größere Frage, die mich beschäftigt ist, woher sie mich kannte? Meine Brüder? Wer ist sie?

„Avis, junge, hörst du mich?", reißt mich die Stimme meiner Mutter aus den Gedanken. Die Trauer zerrt noch immer stark an ihr und ihre Augen glühen rot. Wie gerne würde ich ihr den Schmerz nehmen, die Last auf mich legen und ihr das Lächeln zurückschenken.

„Ja Mutter, es tut mir leid. Ich war in Gedanken", entschuldige ich meine Abwesenheit. Ich starre weiterhin in den Spiegel, die Enden der ungebundenen Krawatte in je eine Hand. Diese Dinger brauchte man so gut wie nie und jedes Mal habe ich meine Probleme sie zu binden. Mein Bruder beherrschte es im Schlaf. Doch nun ... Ich verschiebe den Gedanken. Ich muss stark sein! Unbeholfen drehe ich mich um und lasse meine Mutter sie für mich binden.

„Danke", sage ich leise und streife mir die schwarze Jacke über. So viel schwarz habe ich schon lange nicht mehr getragen. Eine schwarze Hose, ein schwarzes Hemd, die schwarze Krawatte und darüber die Jacke. Kurz schaue ich noch einmal in den Spiegel. Der Anblick lässt mich schlucken, denn mir wird wieder bewusst, was für ein Tag ist. Ich werde meinen kleinen Bruder begraben. Ihn verabschieden ins Jenseits. Noch bevor sich die Träne lösen kann, streife ich sie aus dem Auge.

„Avis, sei so lieb und hilf deinen Geschwistern", bittet mich meine Mutter. Ich drücke ihr einen Kuss auf die Stirn. Heute ist ein schwerer Tag für jeden von uns. Doch ich weiß, dass es meine Mutter am schwersten trifft. Mit Trauer, die sich auch um mein Herz schließt, schaue ich nach meinen Geschwistern. Aus dem Zimmer, der Mädchen kann ich leises Winsel hören. Auch die Zwillinge sind außergewöhnlich still. Nur aus Micahs Zimmer kann ich schreie hören. Im Zimmer des Kleinen entdecke ich meinen Vater, in dessen Augen dieselbe Trauer liegt, wie in denen meiner Mutter.

„Ich will nicht gehen! Ich zieh das nicht an!", brüllt der Kleine und windet sich aus den Armen meines Vaters. Er ist zu klein, um das alles zu verstehen. Ich nicke meinem Vater zu, um ihm anzudeuten, dass ich übernehme.

„Hey, kleiner", rufe ich meinem Bruder zu. Augenblicklich verstummt er und dreht sich zu mir. Ich kann hören wie mein Vater aus dem Raum tritt. „Ich weiß, es ist schwer. Aber du musst heute ein großer Junge sein, okay?", rede ich auf den Kleinen ein. Nach weiteren Argumenten, die ihn letzten Endes überzeugen, gelingt es mir ihn ebenfalls in seine Trauerkleidung zu bekommen. Ich trage ihn in die Küche wo bereits, die anderen auf uns warten.

Gemeinsam laufen wir durch die Straßen Amrox in denen sich immer mehr trauernde Freunde, Verwandte und Bekannte uns anschließen. Schweigend gehen wir zu dem kleinen Friedhof, wo uns bereits der Pfarrer erwartet. Ein Schluchzen und Wimmern geht durch die Reihen, während meine Familie in der ersten Reihe Platz nimmt und auf die Urne vor uns starrt. Staub. Mein Bruder ist weg und was bleibt ist Staub. Die Erkenntnis erwischt mich erneut und ich kämpfe wieder mit den Tränen. Es ist nicht fair. Er hätte nicht sterben dürfen. Er hätte mich überleben müssen. Ich muss den Blick von der schwarzen Urne abwenden. Schwer schlucke ich und fixiere einen Punkt hinter dem Pfarrer.

„Wir haben uns heute hier versammelt, um einen geliebten Menschen zu verabschieden. Einen Sohn, Bruder, Freund ...", ertönt die ruhige Stimme des alten Mannes, den ich zuvor noch nie gesehen habe. Der Pfarrer von Amrox verstarb vor einigen Wochen, weshalb der Pfarrer aus Nima heute zu uns kommt. Ich heiße die Erinnerung willkommen, die mich erneut an einen anderen Ort entführen.

„Eure Hoheit, ich verstehe nicht. Haben wir etwas Falsches getan? Werden wir bestraft?", höre ich meinen Vater, mit zittriger Stimme, den Thronerben von Evrem fragen. Er ist vor ein paar Minuten auf unser Schiff gekommen und verlangte meinen Vater zu sprechen. Er wirkt wütend und ich bete, dass es nicht mit dem Vorfall mit dem grünäugigen Mädchen zu tun hat. Ich habe kaum mit ihr gesprochen, stand nur ganz kurz bei ihr; kann mir nicht vorstellen, was für einen Schaden, das gekostet haben kann.

„Nein, Sir. Ganz im Gegenteil. Sehen Sie es als Belohnung, eine Pause, wenn sie wollen. Zudem bezahle ich Sie." Ich kann in den Augen des Thronerben etwas aufblitzen sehen, dass ich nicht zuordnen kann. Angst, Hass und Hinterhalt alles gemischt und doch etwas anderes. Eindringlich betrachte ich die acht Wachmänner, die den Thronerben begleiten. Sie halten jeden Mann im Augen, so wie die Umgebung und wirken bedrohlich.

„Alles, was sie wünschen, eure Hoheit, ist, dass wir unser Schiff bis zum morgigen Mittag nicht betreten?", versucht mein Vater, das gerade gehörte zusammenzufassen.

„Genau. Überlassen Sie mir das Schiff für die frühen Stunden. Es wird nicht zu Schaden kommen oder sonst irgendwie manipuliert. Ich brauche es lediglich ... wie soll ich sagen ..." Der junge Mann überlegt kurz. „Für ein ungestörtes Gespräch", sagt er schelmisch. Es ist mehr als deutlich, dass er nichts Gutes vorhat. Weshalb er unser Schiff, eines aus Merah, dafür benötigt, ist mir mehr als fraglich. Vertraut er seinen eigenen Männern nicht, seiner eigenen Baukunst, dass er auf das von Merah vertraut.

Aber mir ist auch bewusst, dass mein Vater keine Wahl hat. Selbst wenn er wollte, konnte er nicht nein sagen. Wir befinden uns auf Evrems Territorium und dadurch unter der Staatsgewalt ihres Königs. Mein Vater willigt ein und lässt die Mannschaft wissen, nicht bis zum Mittag zurück auf das Schiff zu kommen. So verschied sich der Thronerbe ohne ein weiteres Wort.

Als jemand an meinem Arm zieht, werde ich aus der Erinnerung gezogen und zurück ins Hier und jetzt. Ich nehme einen tiefen Atemzug und folge meiner Familie, die nach und nach eine Rose auf das Grab unseres Bruders legen. Bis wir uns wiedersehen, Bruder. Sage ich in Gedanken, als ich die rote Rosa platziere und meiner Familie folge.

Bis wir uns wiedersehen!

Die Flucht (Merahs Fluch 2)Where stories live. Discover now