Kapitel 9a

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Eine Weile fragt mich Leander aus und auch Willy plapperte fröhlich vor sich hin. Mit jeder Minute wird Beynon wütender. Am Ende des Essens steht er mit einer kurzen Verabschiedung auf und verlässt den Raum. Kurz überkommt mich die Hoffnung mit meiner Mutter sprechen zu können. Doch auch sie steht auf, küsst meine Stirn und verabschiedet sich mit Willy. Das wäre die Gelegenheit gewesen. Warum ist sie so schnell gegangen? Will sie nicht mit mir sprechen? Traurig blicke ich meiner Mutter nach.

„Wir beide machen jetzt etwas Spaßiges." Leanders Worte lassen mich aus meinen Gedanken herum schrecken. „Oh, ich wollte dich nicht erschrecken", entschuldigt er sich schnell und lächelt mir entgegen.

„Schon okay. Was machen wir denn?", will ich neugierig wissen. Ich bin tatsächlich aufgeregt. Ich kenne Leander nicht, doch so wie er sich gegen Beynon behauptet und auf meiner Seite steht, ist er mir durchaus sympathisch. Außerdem wäre es schön wieder mit jemandem zu reden, der antwortet oder jemanden der nicht versucht hat mich zu erwürgen.

„Was willst du denn gerne machen?" Die Frage überrascht mich. Seit ich angekommen bin, hat mich nicht einmal jemand gefragt, was ich machen will und es ernst gemeint. Leander blickt mir erwarten entgegen.

„Ich würde gerne wieder die Sterne sehen. Meine Sterne", spreche ich das erste aus, was mir einfällt und verfalle ins Schwärmen bei dem Gedanken. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal den Nachthimmel betrachtet habe. Die Erinnerung an die funkelnden Lichter erfüllt mich mit Wärme. Leander lacht laut auf.

„Das würde ich liebend gerne tun. Allerdings ist es kurz nach eins und das könnte sich als schwer erweisen." Ich muss über meine eigenen Fehler lachen. Ich lache? Ein ehrliches Lachen. Laut und nicht gezwungen. In dem kleinen Moment bin ich so frei und erleichtert, wie schon lange nicht mehr. Wie gelingt es einem Fremden mich so freizumachen, doch der Umstände?

„Also irgendwelche Wünsche, die wir bei Tageslicht erledigen können?" Eine Lachträne glitzerte immer noch in seinem Augenwinkel. Ich überlege lange, doch mir kommt nichts in den Sinn, weshalb ich nur mit den Schultern zucke.

„Was hältst du denn von der Palast-tour, die ich dir versprochen habe und anschließend Enten füttern? Das macht Willy zumindest gerne."

Wie vorgeschlagen, bekomme ich zuerst eine lange Tour durch etliche Gänge und Räume des Palasts. Danach setzten wir uns auf eine kleine Bank, neben einen Teich. Mit altem Brot bewaffnet fütterten wir die unzähligen Enten und unterhalten uns währenddessen. Hauptsächlich redet Leander. Auf meinem Wunsch erzählt er mir von seiner Seefahrt. Eine schöne Ablenkung.

Das Gespräch mit Leander fällt mir so leicht wie damals mit Jayden. Die Bank und der kleine Teich erinnern mich an die vielen Gespräche im inneren Garten. Plötzlich blitzen wieder die Bilder von Jayden am Boden, am Tag des Angriffes, in mir auf.

„Alles okay?" Sanft legt Leander eine Hand auf meine Schulter und streicht sanft über sie. Seine Berührung ist beruhigend, doch mir wird der Grund meiner Anwesenheit bewusst. Auch wenn er offensichtlich gegen die Vorgehensweise seines Bruders ist, hat er trotzdem nichts dagegen getan. Er ist Teil der Familie, die mich hierher verschleppt hat und Teil der Familie, die den Tod meines Freundes auf dem Gewissen haben. Das habe ich tatsächlich vergessen und ärgere ich mich über mich selbst. Schnell setze ich meine eiserne Miene auf, wie ich es jedes Mal mit Beynon tue.

„Alles in Ordnung. Ich würde gerne wieder aufs Zimmer gehen", bitte ich leise und mit monotoner Stimme. Die Veränderung bleibt Leander nicht unentdeckt. Zu meiner Erleichterung fragt er nicht weiter nach. Wenige Minuten später stehen wir vor der Türe des Zimmers. Ich will gerade die Türe öffnen, als Leander wieder eine Hand auf meine Schulter legt. Langsam drehe ich mich zu ihm um. Sein Blick ist wieder traurig und mitfühlend.

„Emmelin, du solltest nichts machen, was du nicht möchtest, okay? Wenn Beynon oder ..., wenn jemand dich zu etwas zwingt, dass du nicht möchtest, lass einfach nach mir rufen. Okay? Oder, wenn du einfach aus dem Zimmer möchtest." Seine Worte sind aufrichtig. Eine Dankbarkeit erfüllt mich. Vielleicht ist er nicht so schlimm, wie der Rest seiner Familie. Niemand kann sie sich aussuchen. Vielleicht ist er anders, schleicht sich ein Gedanke ein.

„Vielleicht", sage ich bestätigend zu meinen eigenen Gedanken und bemerkte zu spät, dass ich es laut ausgesprochen habe. Leander blickt mich verwundert an. Bevor er etwas erwidern kann, füge ich schnell hinzu, „Danke dir. Das werde ich." Ich schenke ihm ein Lächeln und verschwinde im Zimmer.

„Du wirst es mir nicht glauben", trällere ich glücklich Kian zu. Den habe ich erschrocken, denn er dreht sich abrupt zu mir um mit weit aufgerissenen Augen. „Oh, tut mir leid", entschuldige ich mich schnell. Seine Lippen zucken leicht, als versuche er zu Lächeln, doch es gelingt ihm nicht.

„Also ich habe gerade Leander kennengelernt. Kennst du Leander? Also er ist Beynons Bruder", plappere ich weiter. Kian nickt kurz.

„Natürlich kennst du ihn. Ich meine er ist sicherlich jedes Jahr bei dem königlichen Ball dabei", sage ich mehr zu mir selbst, als zu Kian.

Natürlich der Ball, wo ich Beynon das erste Mal traf. Leander muss sicher auch dort gewesen sein. Er kam mir nicht bekannt vor. Aber ich war am Tage des Balles nicht nur ziemlich betrunken, aber auch etwas verknallt in den Gentlemen, der Beynon gewesen zu sein schien. Ich schließe meine Augen kurz, um mich an den Abend zurückzuerinnern. An den Abend vor den ganzen Geschehnissen. Ich sitze an der langen Tafel neben Kian. In seiner königlichen Festtag-Uniform sieht er echt gut aus. Ein Strahlen liegt ihm auf den Lippen. Bei dem Gedanken daran muss ich lächeln. Ich schaue zu Beynon an den Tisch, der ebenfalls zu mir herüberblickt. Auch er sieht sehr gut aus. Ich versuche meinen Blick etwas von ihm schweifen zu lassen. Zu den anderen Personen am Tisch. Doch so weiter ich mich von ihm abwende, so verschwommener und schemenhafter wird mein Blick. Wenn Leander an dem Abend da war, habe ich ihn auf jedenfalls nicht gesehen.

Ich öffne meine Augen wieder und schaue in die verwirrten von Kian.

„Tut mir leid. Ich habe nur gerade versucht mich zu erinnern, ob Leander am Abend des Balles anwesend war", erkläre ich schnell. Nachdem Kian nicht mehr spricht ist mir aufgefallen, dass ich alles Mögliche laut ausspreche. Gedanken, die mir kommen oder eben eine erklären meiner Handlungen. Ich sagte ja ich werde hier noch verrückt. „War er da?", frage ich, nachdem mir der Gedanke kommt, dass Kian es wahrscheinlich weiß. Dieser nickt und bestätigt meine Vermutung.

„Kennst du ihn ein wenig?" Kian schüttelt den Kopf etwas. Heute ist er echt gesprächig, denke ich mir und meine es nicht ironisch. Ihm scheint es langsam besser zu gehen. So lange ist er meinem Geplapper noch nie gefolgt. Also Kian kennt ihn nicht. Das sollte etwas Gutes sein, oder? Immerhin würde er wissen, wenn er einen schlechten Ruf hat? Erkläre ich meine Freude über Kians Antwort. Mein Verstand schaltet sich wieder ein und mahnt mich vorsichtig zu bleiben.

„Also auf jeden Fall beim Essen heute hat er tatsächlich das Schweigen gebrochen. Beynon war natürlich nicht sehr erfreut, aber hat sich auch nicht gesträubt." Eine Weile erzähle ich ihm von dem Ausflug am Morgen und auch den Rundgang durch den Palast. Kian scheint tatsächlich meiner ganzen Erzählung zuzuhören und nicht abzudriften.

„Also ich denke, dass ich ihm vorerst etwas vertrauen kann. Zumindest mehr als Beynon und vielleicht kann ich ihm etwas entlocken. Er scheint nichts von der ganzen Sache zu halten. Was denkst du?" Ich schaue Kian in seine grünen Augen. Doch ich erkenne traurig, dass es noch eine ganze Weile sein wird, bis ich meinen Freund wieder habe. Dieses Mal erhalte ich keine Antwort. Stattdessen wendet er seinen Blick erneut an die Decke und versinkt in seinen Gedanken. Ich bin traurig über meinen Freund, dem ich einfach nicht helfen kann. Aber auch hoffnungsvoll über die Besserung, die langsam fortschreitet. Ich ziehe mir wieder die Stoffhose und das Hemd über. Danach lasse ich mich ins Bett fallen.

Die Flucht (Merahs Fluch 2)حيث تعيش القصص. اكتشف الآن