Kapitel 20a

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Wie von Leander versprochen kommt mich am Morgen niemand wecken. Ich erwache kurz bevor die Sonne ihren Zenit erreicht. Leises Vogelgezwitscher, das durch das gekippte Fenster tritt, weckt mich sanft und liebevoll. Die Luft duftet heute herrlich nach Blumen und frischem Kaffee. Ich bleibe noch kurz mit geschlossenen Augen liegen. Erfüllt von dem Frieden eines neuen Morgens. Eines neuen Tages. Ein Tag, an dem alle Sorgen noch vergessen scheinen.

Der gestrige Tag hat eine schlechte Wendung genommen, doch nach dem Gespräch mit Leander sind die Sorgen etwas abgefallen. Die Hoffnung, doch noch an Antworten zu kommen, flammt neu in mir auf. Fluch von Merah. Kraft der Sterne. Mein Blut. Das blaue Zeichen auf meinem Arm. Das alles hat etwas mit der ganzen Situation zu tun. Jetzt muss ich nur noch alle Teile richtig zusammen fügen. Neuer Ehrgeiz und Hoffnung erblühen, dank dieser neuen Brotkrümel. Leise richte ich mich in dem Bett auf und bemerke, dass Kian nicht neben mir liegt. Seine Hälfte des Bettes ist leer.

Ich erspähe ihn am Schreibtisch, wieder konzentriert in den eigenen Zeichnungen. Seit Wochen ist Kian in diesem Zimmer eingesperrt und nicht einmal, hat er sich beschwert. Nicht einmal, rebelliert. Was sie ihm angetan haben, muss schwere Wunden hinterlassen haben. Oder haben sie ihm auch gedroht? Hofft er auf eine Rettung seines Vaters? Der Gedanke, was Kian durchgemacht hat, lässt Träne in meinen Augen aufsteigen. Ich weiß, dass Leander die grausamen Details ausgelassen hat, aber selbst das, was ich erfahren habe, ist schrecklich.

„Guten Morgen", sage ich schnell, um meine Gedanken wieder abzulenken. Kian scheint vergessen zu haben, dass ich noch im Raum bin, denn er zuckt erschrocken zusammen. Wieder sehe ich wie er ein Blatt Papier unter einem Stapel anderer versteckt.

„Guten Morgen", sagt er noch etwas in Gedanken versunken. Nach einer Dusche weihe ich Kian in die neuen Erkenntnisse ein und den Treffen auf dem Balkon.

„Hast du schon einmal von der Kraft, der Sterne gehört?", frage ich ihn, doch er schüttelt den Kopf. „Dem Fluch von Merah?" Bei der Erwähnung zuckt Kian zusammen. „Hast du das schon einmal gehört?", frage ich aufgeregt, doch an seiner Miene kann ich ablesen, dass der Gedanke daran ihm Schmerzen bereitet. „Als der König dich gefoltert hat?", frage ich vorsichtig. Kian zittert ganz leicht und ich sehe ihm an, dass er mit den Tränen kämpft.

„Emmelin?", fragt er mit einem leichten Zittern. Ich lächle ihm entgegen, damit er weiter spricht. „Wie lange sind wir schon hier?", fragt er beinah beschämt. Er war die ganze Zeit nicht ganz anwesend und es wundert mich nicht, dass er das Zeitgefühl verloren hat. Erst die letzten Tage ist er langsam wieder aus seinen Gedanken gekommen.

„Etwas über einen Monat", sage ich traurig und erkenne, dass ihn das überrascht. Er muss schwer schlucken und kneift die Augen kurz zusammen.

„So lange?", fragt er schockiert. Sein sonst neutraler und abwesender Blick wird hoffnungslos.

„Wir finden einen Weg nach Hause", versuche ich ihn aufzumuntern. Meine Worte erreichen ihn nicht. „Dein Vater wird uns finden oder wir schaffen es alleine." Wieso hat uns sein Vater noch nicht gefunden? Wieso braucht er so lange?

Das Klopfen an der Türe stoppt meinen Gedankenprozess und etwas hoffnungsloser als noch vor ein paar Minuten öffne ich die Türe. Minerva und Zoya treten ein und zaubern wieder ein repräsentatives Mädchen aus mir. Doch selbst die schöne Frisur und das Make-up können meine Sorge nicht verdecken. Ich habe Angst, Kian wieder an seine Gedanken zu verlieren. Angst, diesem Palast nicht zu entkommen. Angst, dass ich mich auch irgendwann selbst verliere.

Als Leander vor der Türe steht, kommt mir eine Idee.

„Hey, Emmelin ich komme..."

„Kian, kommt heute mit", sage ich bestimmend und augenblicklich schießen die Augenbrauen des Thronerben nach oben. „Keine Widerrede, sonst komm ich nicht", sage ich streng.

„Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist, Emmelin", sagt er besorgt.

„Bitte. Er ist seit fünf Wochen hier eingesperrt", bettele ich, doch an seinem Gesicht erkenne ich, dass er nicht einknicken wird. Ich spüre Kians Arm auf meine Schulter und drehe mich zu ihm um.

„Emmelin, es ist okay. Mir macht es nichts aus. Solange es dir gut geht, geht es auch mir gut", sagt er ehrlich und das Funkeln in den Augen kommt etwas zurück. Ich will gerade widersprechen, als er den Kopf schüttelt. „Wirklich Emmelin", sagt er noch einmal.

„Ich komm trotzdem nicht mit zum Mittagessen", sage ich wieder an Leander gerichtet. Ich muss meiner Drohung gerecht werden.

„Dann ist es gut, dass ich dich nicht zum Mittagessen hole", sagte dieser belustigt. „Wenn du mich hättest ausreden lassen, wüsstest du, dass deine Mutter gleich ankommt. Ich dachte mir, dass du sie begrüßen möchtest." Als er meinen Schock sieht, muss er lachen. Damit habe ich nicht gerechnet. Kurz drehe ich mich zu Kian, der mir zu nickt und schon bin ich durch die Türe.

„Emmelin, warte. Du weißt doch nicht, wo du hin musst", sagte er amüsiert. Inzwischen kenne ich mich ziemlich gut im Palast aus und der Weg zum Haupttor ist mir kein Rätsel. Aufgeregt laufe ich die Treppe hinunter, vorbei an Bediensteten, dann durch das große Tor. Draußen angekommen, sehe ich bereits die Kutsche. Als meine Mutter und der kleine Willy hinaussteigen, falle ich ihnen freudig um den Arm.

„Ich habe euch so vermisst", rufe ich freudig, während ich mich an sie drücke. Der kleine Willy windet sich aus der Umarmung, doch meine Mutter lässt nicht von mir ab. Der König hat ihnen nichts angetan, erleichtert mich mein Verstand.

Als ich von ihr ablasse, blicke ich mich schnell um, doch noch ist Leander nicht hier und auch von Beynon ist keine Sicht. Zum ersten Mal seit langem habe ich wieder einen Moment mit ihr alleine. Auch wenn ich das freudige Wiedersehen nicht drüben möchte, kann es sein, dass es meine einzige Chance ist.

„Mutter, was weißt du über einen Fluch von Merah? Oder irgendeine Sternenkraft? Was hat das alles mit mir zu tun? Wieso bin ich her? Wieso du? Was will der König von Evrem von uns?", sprudeln die Fragen aus mir heraus. Bei den ersten zwei Fragen erkenne ich Panik in ihren Augen und augenblicklich wird mir bewusst, dass sie etwas mit den Begriffen anfangen kann. Doch dann wird ihr Gesichtsausdruck besorgt. Auch sie blickt sich um und ihre Angst löst sich etwas.

„Du weißt etwas! Du musst es mir sagen. Mutter, bitte", bettele ich, als sie mir nicht antwortet. Ich kann den Kampf in ihr beinah spüren. Sie verheimlicht mir etwas. Genauso wie Beynon.

„Oh, Emmelin. Ich tue das alles, um dich zu schützen. Ich weiß, die ganzen Fragen scheinen dich zu erdrücken, aber bitte sei dir gewiss, ich will nur das Beste für dich." Wieso tut sie das? Enttäuschung und Wut über meine Mutter übernimmt mich. Der Verrat von ihr trifft mich schwerer, als der von den Brüdern. Sie ist meine Mutter. Wie kann sie auf ihrer Seite sein? Ich will gerade meiner Wut freien Lauf lassen, als sich ihr Gesichtsausdruck verändert und mich innehalten lässt.

Ihr Blick wird starr, beinah panisch. Für einen kurzen Augenblick befürchte ich den König hinter mir oder Beynon. Kurz drehe ich mich um, doch immer noch ist keine Menschenseele hier draußen. Dann bemerke ich, dass ihr Blick auf mir liegt. Verwirrt schaue ich wieder zu meiner Mutter, die immer noch aussieht, als habe sie ein Gespenst gesehen. Sie wirkt bleich, ihre Augen sind aufgerissen und sie hält den Atem an.

„Mutter?", frage ich leise und behutsam. Ich mache einen Schritt auf sie zu und lege meine Hand auf ihre Schulter. Will sie mir endlich die Wahrheit sagen? „Mutter?", wiederhole ich und sie schreckt leicht unter meiner Berührung zusammen.

„Emmelin, woher hast du das?", fragt sie streng, beinah vorwurfsvoll. Missfallen, aber auch Angst, legt sich über ihre Augen, als sie auf die Kette um meinen Hals deutet.

Zum ersten Mal trage ich ein Kleid mit einem etwas tieferen Ausschnitt, weshalb die Kette unter dem Stoff herausgerutscht ist. Ich verstehe ihre Panik nicht. Verwirrt fährt meine Hand zu dem kleinen Amulett und streicht über das königliche Symbol. Ich bin froh, dass es mir bis jetzt noch niemand abgenommen hat. Es erinnert mich an zu Hause. An Merah. An Rosalee und Kalea und - Jayden. Die etlichen Tanzstunden, die wir für den Ball geprobt haben, habe ich mit der Kette verbunden.

„Die Kette?", frage ich noch einmal verwirrt, um sicherzustellen, dass sich ihre Panik darauf bezieht. Meine Mutter streckt ihre Hand nach dem goldenen Medaillon aus. Doch bevor sie es genauer betrachten oder ich ihr eine Antwort geben kann, ertönt Beynons Stimme hinter uns. Erschrocken fahren wir herum und blicken zu dem rothaarigen Thronfolger.

Die Flucht (Merahs Fluch 2)जहाँ कहानियाँ रहती हैं। अभी खोजें