Kapitel 19a

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Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich nur knapp zwei Stunden geschlafen habe. Es ist erst kurz nach Mitternacht. Nur der leichte Schimmer des Monds erhellt den Raum. Die Grimasse, des Königs hat mich aus meinem Schlaf gerissen. Aufgrund des Adrenalins, das durch meine Adern fließt, wird es mir vergönnt sein mehr Schlaf zu bekommen.

Vorsichtig schleiche ich aus dem Bett, um Kian nicht zu wecken und gehe ins Badezimmer. Mein Körper ist getränkt in Schweiß und ich fühle mich widerlich. Ich habe das Gefühl, die Hand, des Königs auf mir zu spüren. Deshalb entscheide ich mich für eine Dusche. Danach fühle ich mich körperlich viel besser, doch mental beherrscht immer noch der König von Evrem meine Gedanken.

Ich schnappe mir wieder ein paar von Kians Kleidern. Die Bediensteten müssen bemerkt haben, dass nicht nur Kian seine Kleidung trägt, denn es liegen mehr Hemden und Hosen hier. Obwohl ich inzwischen meine eigene Jacke und Pullover bekommen habe, entscheide ich mich für Kians schwarzen, anstatt den lila Pullover der mir gebracht wurde.

Das Verlangen meine geliebten Sterne zu sehen, steigt in mir auf. Sie sind es, die mich in jeder Situation wieder in den inneren Frieden ziehen. Da ich im Garten zu große Gefahr laufe, gesehen zu werden, entscheide ich mich, wenn auch nicht weniger riskant, irgendwie auf das Dach, des Palastes zu finden. Ich brauche etwas, das mich an zu Hause erinnert. Etwas das es schafft mein innerstes zu beruhigen.

Leise schleiche ich auf den Gang heraus. Es ist ruhig und wieder sehe ich keine der Wachmänner. Zwar habe ich keine Ahnung wie ich an den höchsten Punkt gelange, aber ich bin gewillt es zu versuchen. Nur mit einem groben Lageplan mache ich mich los. Kurz bilde ich mir ein, Schritte hinter mir zu vernehmen, als ich mich jedoch herumdrehe, erkenne ich nichts.

Etliche Treppenstufen später scheint es nicht höher zu gehen. Dieser Teil des Palastes ist mir unbekannt. Sicher weiß ich nur, dass es sich nicht um Schlafsäle handelt. Ich fürchte mich trotzdem zu sehr, die Türen zu öffnende. Am Ende des Ganges erkenne ich eine große Fensterfront.

Meine Hoffnung einen Balkon zu entdecken, wird nicht enttäuscht und wenig später stehe ich an der frischen Luft. Um einiges größer als erwartet, erstreckt er sich über einem der Flügel des Palastes. In gewisser weiße das Dach. Der Gedanke beruhigt mich bereits. Ein Gefühl von Heimat blüht langsam auf. Ich erkenne, dass ich gerade aus einem der vielen Türme getreten bin. Über mir ragt nur noch dessen Spitze. Somit habe ich tatsächlich den höchsten Punkt erreicht. Es sei denn, ich bin lebensmüde genug auf das schräge Dach des Palastes zu klettern.

Trotzdem zieht etwas in meinem inneren nach mehr nähen zu den Sternen. Nur ein Stück weiter und all deine Sorgen fallen ab. Nur ein kleines bisschen mehr, bettelt mein Verstand. Mein Blick geht nach oben zum himmlischen Funkeln. Es fehlt nicht viel. Nur ein Stück, sagt mein Verstand erneut. Die Balustrade, des Balkons ist mehr als einen halben Meter breit, wirkt weder brüchig noch locker. Ein Blick darüber legt einer weiten Kluft vor. Höhenangst hatte ich noch nie. Auch, wenn mir die Höhe doch Respekt fordert. Doch die Balustrade ist mehr als breit genug und ich stemme mich langsam daran hoch.

Erst mein rechtes Bein, dann das linke und dann raffe ich meinen Körper auf. Die knapp ein-Meter-zwanzig, die ich nun höher stehe, scheinen tatsächlich die Höhe zu sein, die fehlte. Die Distanz, die ich noch zu überbrücken hatte. Mein Blick nach oben reißt alle Schatten aus meinen Gedanken. Für einen Moment erreiche ich kompletten inneren Frieden. Die Ruhe nach der ich strebte. Ich schließe meine Augen und lasse mich komplett einhüllen, für diesen kurzen Augenblick.

Der Moment, der plötzlich von einem Aufschrei durchbrochen wird. Ein Schrei, der den Frieden verjagt. Mein Eigener. In mir wird etwas aufgewirbelt. Bevor ich begreifen kann, was passiert, scheine ich schwerelos. Ich habe den Frieden geschmeckt und ihn genossen. Genau in dem Moment, in dem ich mich in ihm fallen lassen wollte, wird er mir entzogen. Ein beinah größerer Schmerz, als der, in dem ich nach dem Frieden lechzte, durchzieht meinen Körper. Erst als sich mein Inneres beruhigt und die Bilder des Königs mich wieder heraus schrecken lassen, bemerke ich, dass ich nicht falle.

Ich stürze nicht in die Tiefe, ich werde nicht in den Abgrund gezogen, sondern wurde auf den Balkon zurückgesetzt. Die Arme, der Person sind immer noch feste um meine Taille gelegt. Erst jetzt bemerke ich, wie eine dumpfe Stimme zu mir vordringt. Wie eine Stimme Unterwasser kann, ich die Worte nicht ausmaßen. Die Stimme nicht zuordnen. Mit jeder Sekunde wird sie lauter, klare und verzweifelter. Meine Augen sind immer noch geschlossen. Ich spüre wie der Griff um mich fester wird, die Worte drängender. Ich fühle mich, als wäre ich zu früh aus einem schönen Traum gerissen worden. Zu unsanft. Immer noch halb im Traum und halb in der Realität gefangen. An dem Ort dazwischen.

„Emmelin, was machst du?", versteh ich die Frage, die immer wiederholt wird. 

Jedes Mal lauter.

Jedes Mal drängender.

Jedes Mal verzweifelter.

Und mit der Klarheit der Worte auch die Person, die dahinter steckt. Leander. Die Erkenntnis lässt meine Augen augenblicklich aufschlagen. Vor mir steht tatsächlich der Thronerben mit den zwei Augenfarben. Die Augen, die mich jedes Mal verzaubern, wenn ich zu lange in sie sehe.

„Emmelin, was zum Henker machst du da?", brüllt er mich immer noch an. Ich starre ihm leise entgegen. Sollte Panik verspüren, dass ich erwischt wurde? Furcht vor den Konsequenzen haben. Angst um die Menschen die ich liebe, haben. Doch nichts. Ich fühle nichts in dem Moment. Auch keinen Frieden.

„Emmelin!", schreit er so wütend wie noch nie. Als habe ich ihm etwas beraubt, auf das er lange hingearbeitet hat. Ich spüre wie seine Worte an mein Trommelfell hämmern. Der Schalter in meinem Kopf schaltet um. Die Handlungsfähigkeit löst sich von mir. Meine Hände legen sich auf das Gesicht des jungen Mannes, der kurz zusammenzuckt.

„Leander." Dieser blickt mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Seine Hände, die immer noch feste um meine Taille liegen, scheinen sich in meinen Körper zu pressen.

„Was zum Henker hattest du vor, Emmelin?", fragt er ruhiger aber vorwurfsvoll. Ich lege meinen Kopf etwas schief und setzte ein Lächeln auf.

„Was meinst du?", höre ich mich selbst mit einer so ruhigen Stimme sagen, dass ich selbst glaube, ich stehe unter Drogen.

„Du warst auf dem Gelände, des Daches. Was denkst du, was ich meine?", sagt er entsetzt und betrachtet mich wie eine verrückt gewordene alte Frau. Kurz drehe ich mich zur besagten Balustrade. Wie ein Wasserfall stürzt alles in mich ein. Der Grund weshalb ich hier oben bin, weshalb ich den Frieden lechzte und wie er mich aus dem Frieden riss. Mein benebelter Zustand löst sich von mir und meine Gedanken werden wieder klar wie der Tag. Abrupt lasse ich von seinem Gesicht ab, versuche mich aus seinem Griff zu lösen und härte mein Gesichtsausdruck, um meinen Ärger widerzuspiegeln.

„Wieso hast du mich dort heruntergerissen?", frage ich vorwurfsvoll und versuche zurück an den Ort zu kommen, der mir für einen Moment inneren Frieden geschenkt hat. Leander blickt mir fassungslos entgegen und Entsetzen macht sich in seinem Gesicht breit.

„Ich lasse dich doch nicht einfach springen!", schreit er verärgert.

„Springen?" Ich kann seinen Zorn nicht nachvollziehen.

„Denkst du wirklich, ich schaue dir zu, wie du dich in den Tod fallen lässt?", fährt er fort und ignoriert meine Frage. „Das ist keine Lösung, Emmelin. Was hast du dir gedacht? Wie kannst du denken, dass das die Lösung sei?" Langsam setzen meine Gedanken die Puzzleteile zusammen und seine Vorwürfe machen Sinn.

„Ich wollte doch nicht springen", protestiere ich laut und Leander stoppt seinen Monolog.

„Wolltest du nicht?", fragt er ungläubig.

„Natürlich nicht!" Nun bin ich es, die schreit. Immer noch wütend, dass er mich aus der kurzen Ruhe entrissen hat. Leander starrt mir entgegen. Scheint zu überprüfen, ob er meinen Worten Glauben schenken kann. Seine entsetzte Miene wird etwas weicher, er ist sich immer noch nicht einig, ob er mir glauben soll.

„Was hast du dann da oben gemacht?", fragt er unsicher.

„Ich wollte nur höher", sage ich selbst auch ruhiger. „Näher an die Sterne." Ich sehe ihm an, dass er meine Worte nicht versteht, er kurz abwägt, ob ich doch nicht komplett verrückt geworden bin.

„Kannst du mich jetzt endlich loslassen", blaffe ich ihn genervt an, da ich keine Lust habe darauf zu warten, dass er es von alleine tut. Kurz schaut er mir noch einmal entgegen, löst dann langsam den Griff von mir. „Danke", flüstere ich und gehe einen Schritt nach hinten. Ich spüre wie ich an die Balustrade stoße. Leander zuckt zusammen und ist kurz davor mich wieder zu packen. Doch ich stoppe ihn mit einer Handbewegung.

Die Flucht (Merahs Fluch 2)Место, где живут истории. Откройте их для себя