Kapitel 12b

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 „Beynon?" Setzte ich schüchtern an. Er blickt mir glücklich entgegen und gibt mir Mut. „Ich wollte fragen, ob ich etwas Papier und Zeichenstifte bekommen könnte." Mir tut Kian leid, der den ganzen Tag in dem Zimmer sitzen muss, ohne jegliche Art von Beschäftigung. Zwar beschwert er sich nicht, aber ich stelle es mir trotzdem schrecklich vor. In Merah habe ich seine wunderschönen Zeichnungen gesehen. Als ich in der Bücherei ein Buch über das Zeichnen entdeckt habe, ist mir die Idee gekommen. Natürlich kann ich Beynon nicht sagen, dass die Utensilien für Kian sind. Sonst würde ich sie nicht bekommen.

„Wofür brauchst du denn Papier und Stift?" Er mustert mich genau. So wie gestern, als ich ihn fragte, ob ich in die Bibliothek darf. Er erwartet einen Hintergedanken oder etwas, das ihn in Schwierigkeiten bringen kann. Aber seien wir mal ehrlich, was sollte ich schon mit Papier und Stift gefährliches anstellen. Eine Beschwerde an den König schreiben, ich muss über meine innere Begründung lachen und sehe wie Beynon die Augenbrauen in die Höhe nimmt.

„Zum Zeichnen. Manchmal wird es wirklich langweilig in dem Zimmer. Immerhin habe ich nichts außer Möbel dort drinnen." Ich versuche an sein Mitgefühl zu appellieren und setze ein bittendes Lächeln auf. Kurz überlegt er und wiegt die Gefahren, die von Papier und Stift ausgehen ab.

„Ich lasse dir gleich welches bringen. Stellt damit aber nichts Dummes an, okay?", sagt er mit einem Lachen, aber ich sehe ihm an, dass er es ernst meint.

„Versprochen", verkünde ich fröhlich und verschwinde im Zimmer.

Wenig später klopft ein Bediensteter an der Türe und reicht mir einen ganzen Stapel Papiere und fünf Bleistifte in verschiedenen Stärken. Kian ist gerade im Badezimmer und bekommt nichts mit. Als er die Tür öffnet, schaut er mich verwirrt an.

„Ich habe eine Überraschung für dich." Ich kann meine Freude nicht verheimlichen und stecke Kian damit an. Seine Mundwinkel zucken ein wenig, nur ganz bisschen, nach oben. Als er das Papier und die Stifte auf dem Tisch entdeckt, zucken seiner Mundwinkel erneut.

„Für mich?", fragt er etwas ungläubig.

„Natürlich. Beynon denkt zwar es ist für mich, aber ich habe doch keine Ahnung vom Zeichnen. Ich dachte mir, so hast du etwas während ich weg bin. Wir wollen nicht, dass dir langweilig wird", plappere ich fröhlich los und beobachte, wie Kian die Utensilien genau betrachtet.

Kurz darauf sitzt er konzentriert über einem Papier und kritzelt fleißig. Auch ich nehme mir ein Papier und beginne eine Art Karte des Palastes anzulegen. Es kann nicht schaden mir einen gewissen Überblick zu machen und die wichtigen Räume festzuhalten. Auch schreibe ich die Worte wieder, die immer wieder in meinem Kopf huschen: Onur toolb ronigmal ud nemral fer sotan ca comgin ligit fo nagi dervilt. Onur staduren midte nak tunle nela. Ebevie consiquegt allea nym dinich. Die letzten Worte des Vertrages aus Caspians Erinnerung, die ein weiteres Rätsel sind, genauso wie meine Anwesenheit hier. Doch irgendwie hängen sie zusammen. Nur weiß ich noch nicht wie. So sitzen wir bis es dunkel wird am Tisch vertieft in unsere Arbeit.

Als es an der Türe klopft schrecken wir beide hoch. Schnell verstecke ich meine Papiere unter dem Kopfkissen, bevor ich die Tür öffne. Es ist Leander, der mir meine Ausrede wahrscheinlich nicht abgekauft hat und trotzdem vorbei gekommen ist. Etwas erschrocken schaut er zu Kian, der ihm böse zurückblickt. Leander ist wirklich schockiert über seine Anwesenheit, Beynon muss ihm nicht gesagt haben, dass Kian in meinem Zimmer wohnt. Normalerweise lag er im Bett, welches von der Türe nicht gesehen werden kann, weshalb er ihm zuvor nie aufgefallen ist.

„Das erklärt zumindest deine Kleider", kommentiert er etwas überfordert und betrachtet mich. Erneut trage ich eine der Hosen und Hemden die für Kian gedacht sind.

„Leander, was machst du denn hier? Ich habe dir doch..." Mit einer Handbewegung bringt er mich zum Schweigen.

„Ich weiß, es tut mir leid. Ich wollte nur sehen, ob du vielleicht deine Meinung geändert hast oder es etwas gibt, dass du gerne hättest?" Ihm scheint es wirklich wichtig zu sein, dass ich ihm das Debakel vom Vortag vergebe. In gewisser Weise schmeichelt es mir, aber auf der anderen ist es auch angsteinflößend. Kurz überlege ich, ob ich das Angebot ausnutzen kann, aber auf die Schnelle fällt mir einfach nichts ein, das mir helfen kann den Palast zu entkommen. Denk nach Emmelin, drängt mein Verstand. Das einzige, was ich in diesem Moment will, sind Antworten, aber diese wird er mir nicht geben.

„Nein, ist schon gut. Das, was ich will, bekomme ich doch nicht", sage ich halb in Gedanken.

„Das weißt du erst, wenn du fragst", sagt er neugierig und vergisst, dass ich eigentlich eine Gefangene seines Vaters bin.

„Antworten. Antworten für den Grund meiner Anwesenheit. Die meiner Mutter, meines Bruders. Antworten, weshalb ich aus meinem Leben gerissen wurde", sage ich streng, denn das selbstsichere Lächeln von Leander scheint mich unterbewusst gereizt zu haben. Kurz zuckt sein Gesicht und sein Lächeln schrumpft.

„Es tut mir leid", sagt er traurig. Es sind wieder seine Augen, die diese Trauer nicht widerspiegeln. Seine Antwort senkt mein Gemüt nicht, denn ich habe sie schon erwartet.

„Ist schon gut. Wenn sonst nichts ist, dann sehen wir uns morgen", sage ich immer noch mit demselben Lächeln im Gesicht und einem neutralen Unterton.

„Gute Nacht", sagt er schnell, bevor ich die Türe schließe.

***

Am nächsten Morgen begleitet mich nur ein Wachmann. Da ich den Weg zum Essenssaal bereit auswendig kenne, gehe ich voraus und nach ein paar Metern bringe ich eine große Distanz zwischen uns. Ein gewisses Gefühl von Freiheit überkommt mich und ich genieße den kleinen Moment. Ich bin mir unsicher, weshalb ich es heute so eilig habe, aber etwas in meinem Inneren treibt mich voran. Vor der Türe halte ich kurz inne, denn ich höre lautes Geschrei. Beynon und Leanders Stimmen.

„Sie verdient es, die Wahrheit zu kennen!", schreit Leander aufgebracht. Mein Blick geht kurz in den Gang, doch der Wachmann ist immer noch ein ganzes Stück von mir entfernt und kann das Geschrei nicht vernehmen.

„Das hast nicht du zu entscheiden!" Auch Beynons Stimme ist verärgert, doch ruhiger als Leander.

„Immerhin geht es hier um ihr Leben. Du kannst nicht wirklich glauben, dass sie dir vertraut, wenn du ihr nicht einmal die Zuvorkommenheit der Wahrheit erweist!"

„Das lass meine Sorge sein, Bruder." Beynons Stimme wirkt ganz ruhig. Wie die Ruhe vor dem Sturm. Ich höre wie etwas zu Boden fällt und zerspringt. Noch einmal geht mein Blick angespannt zu dem Wachmann, der sich Zeit lässt, denn er ist immer noch weit von mir entfernt.

„Verdammt nochmal, Beynon. Es geht hier um Emmelin. Einen Mensch. Du kannst nicht so tun als hätte das keine Bedeutung. Sie verdient die Wahrheit. Und wenn du es ihr nicht sagst, dann werde ich es tun." Ich höre wie sich schwere Schritte auf die Türe zubewegen. Mein erster Instinkt ist mich zu verstecken, doch das würde nichts bringen. Nur die Aufmerksamkeit des Wachmanns auf mich ziehen. Deshalb entscheide ich etwas zur Seite zu gehen. Nah genug um weiter das Gesehen zu belauschen. Aber weit genug, um nicht mit jemandem zusammenzustoßen, sollte er den Raum stürmisch verlassen.

„Leander, das wirst du nicht tun!" Nun scheint Beynon außer sich. Sein Ton ist so hart, streng und feste, dass sogar ich alles tun würde, was er sagt. Ich höre wie die Schritte abrupt anhalten.

„Ach, das werde ich nicht? Was hindert mich daran?", brüllt Leander herausfordernd entgegen. Was als Nächstes geschieht weiß ich nicht, denn sie sprechen zu leise, um es zu hören oder vielleicht zeigt ihm Beynon auch etwas. Doch Momente später schnauft Leander laut und reißt die Türe auf. Er schaut kurz zu mir, wirkt aber nicht überrascht. Ich sehe so etwas wie ein Lächeln, doch schon im nächsten Augenblick wendet er den Kopf und ich kann es nicht mit Gewissheit sagen. Dann stampft er wütend den Gang entlang, ohne ein weiteres Wort.

Die Flucht (Merahs Fluch 2)Where stories live. Discover now