Kapitel 38

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"Wie alt die Erde ist vermögen wir heute noch nicht zu sagen. Was wir jedoch bereits wissen ist, dass die Zählung der Jahre von den ersten Königen, also im Jahre Null, unternommen wurde. Der erste bekannte König hörte auf den Namen Osiris (kurz Osr.) , weshalb sein Namen als Zeitgrenze des nullten Jahres genutzt wird. Demnach werden die Jahre vor dem Jahr Null mit vor Osiris (kurz v. Osr.) und die gezählte Zeit mit nach Osiris (kurz n. Osr.) gekennzeichnet. 

 Die Zeit der ersten Könige, wie man die ersten dreihundert Jahre unserer Zeit nennt, wurde von der Zeit der wahren Kunst abgelöst. Die Königreiche hielten sich, doch das Volk gab sich einen neuen Namen. Die sogenannten Kaelchbräer verliehen mit ihren prachtvollen Handarbeiten und Kunstwerken der Epoche ihren Namen. Zum Teil kann man noch heute die antiken Werke bestaunen.

 Ab dem fünften Jahrhundert n. Osr. spricht man von der Neuzeit der Magie, die bis zum heutigen Tag überdauert. Diese hat ihren Namen zahlreichen Magiebedingten Forschungen und Erfindungen, wie die magiebetriebene Elektrizität (siehe Seite 146, "Wunder der Neuzeit") zu verdanken."

(Ausschnitt S. 2 in "Von Weltgeschichte und Magie", Bart Timarus, 698 n. Osr.)

Polternd machte sich die Reisekutsche auf den Weg zurück zum Zentrum

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Polternd machte sich die Reisekutsche auf den Weg zurück zum Zentrum. Da dieses nur ein kleiner Umweg auf der Heimfahrt meiner Mutter und meines Bruders war, fuhren wir in der selben Kutsche, was den praktischen Nebeneffekt hatte nur eine Kutsche bezahlen zu müssen. Madame Spiegelglas hatte ich nach einigen Diskussionen das Versprechen abgelegt die ganze Fahrt über still zu sein, denn hätte meine Mutter von ihr erfahren, hätte ich ihr ebenfalls von deren ursprünglichen Besitzerin erzählen müssen und meinen nächtlichen Treffen mit einer Fremden. Mein kleines Geheimnis bewahrte also meine Mutter vor einem Herzinfarkt und mich vor lebenslangem Stubenarrest nach meinem Zentrumsjahr. Einzig der Abschied von meinem Vater lastete schwer auf mir, aber ich hatte Hoffnung. Wenn es Gerechtigkeit gab, dann würde mein Vater für unschuldig erklärt werden. 

Einige Stunden später hielt die Kutsche vor dem Zentrum. Einsam stand sie vor dem weitläufigen Vorplatz. Der große Andrang würde erst morgen in den späten Mittagsstunden des letzten Ferientages ankommen.  "Darf ich jetzt wieder reden oder wirst du mir noch länger den Mund verbieten?", fragte es aus meiner Tasche. "Wenn es unbedingt sein muss", murmelte ich zurück und hoffte, dass niemand mich mit Luft reden hörte. Der Weg war länger als bei meiner ersten Anreise vor einem halben Jahr. Anders als damals musste ich es nicht nur bis zum richtigen Wohnhaus schaffen, sonders das ganze Gelände bis zum Wald und der kleinen unscheinbaren Hütte davor überqueren. Doch die Luft war frisch und die Umgebung im Frühling schön, so machte mir der kleine Spaziergang nichts aus. 

Als ich die Tür des Waldhüter Hauses aufstieß, hörte ich ein leises erschrockenes Keuchen im Inneren, gefolgt von einem ersticktem Schluchzer.  Lauschend klopfte ich an die Tür, die zu dem Hauptzimmer des Hauses führte. "Herein", erklang eine dünne Stimme von drinnen. Als ich den Raum betrat, sah ich Yuna auf ihrem Bett sitzend. Mit geknickter Haltung, die sehr untypisch für ihre elegante Art war, beugte sie sich über ein Bild. Es war schwer für mich eine Person traurig zu sehen. Ich ließ meine Tasche auf den Boden gleiten und setze mich zu ihr auf die Bettkante. Unsicher wie sie darauf reagieren würde, strich ich ihr über den Rücken. "Ist das deine Familie?" Ich deutete auf das Bild. Es zeigte zwei Mädchen und zwei Jungen unterschiedlichen Alters. Eines der Mädchen sah aus wie eine jüngere Version von Yuna. Neben den Kindern stand ein Ehepaar, glücklich lächelnd in einfache Kleider gekleidet. Allesamt hatten sie die selben schwarzen seidigen Haare. Der Hintergrund zeigte ein kleines Haus, das wohl kaum genug Platz für alle sechs bieten konnte, und den Anfang eines Feldes. 

Yuna nickte. "Das ist Lia und das sind Javan und Owen", sie zeigte zuerst auf das Mädchen und anschließend auf die zwei Jungen neben ihr. "Und das", sie strich mit dem Daumen über die Gesichter ihrer Eltern. Eine Träne traf das Foto. Tröstend nahm ich sie in den Arm, als sie wieder zu weinen anfing. "Sie wollen es einfach nicht verstehen", erzählte sie unter Tränen. "Für sie gibt es kein besseres Leben als das auf dem Land, in der Natur, mit der Familie. Aber wenn ich dort bleibe, dann ersticke ich." Es war schwer zu sie zu verstehen, denn sie hatte ihr Gesicht an meine Schulter gepresst und wurde immer wieder von Schluchzern unterbrochen, doch ich hörte ihr geduldig zu bis sie sich wieder aus meiner Umarmung löste. 

"Dein Kleid ist nass", stellte sie schuldbewusst fest. 

"Schon gut. Willst du einen Rat oder lieber Ablenkung?" Meine Mutter stellte mir diese Frage immer, wenn sie mich tröstete. Ich fand es war der beste Weg jemandem über seinen Kummer hinwegzutrösten, denn manchmal war selbst der bestmögliche Rat nicht hilfreich, wenn man eigentlich versuchte die Situation aus seinen Gedanken zu verbannen. 

"Ablenkung."

"Gut, ich muss dir sowieso etwas zeigen." Ich lief hinüber zu meiner Tasche und zog den goldenen Handspiegel daraus hervor. Es hätte sowieso nichts gebracht Madame Spiegelglas vor meinen Mitbewohnern zu verbergen. Ich konnte ihr schließlich nicht für immer den Mund verbieten. 

"Das wurde aber Zeit", sagte Madame Spiegelglas, doch ihre Stimme hörte sich sanft an, da sie Yunas geröteten und glasigen Augen bemerkt hatte. Yunas Augen weiteten sich, doch kurz darauf fing sie sich wieder. "Schön sie kennenzulernen", begrüßte sie den sprechenden Spiegel höflich, als wäre es das normalste auf der Welt. 

"Ich bin Madame Spiegelglas. Sag wie heißt du Kind?", fragte sie offensichtlich begeistert von Yunas höflicher Art und ihrem trotz Trauerblick eleganten Aussehen. "Ich bin Yuna, Lyrias Mitbewohnerin", sie warf mir einen fragenden Seitenblick zu, bevor mit interessierter Miene weitersprach.  "Ich nehme an sie stammen noch aus der Zeit der wahren Kunst? Ein so gut erhaltenes Kunstwerk der Kaelchbräer habe ich noch nie gesehen." 

Dem geschmeichelten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, der sich auf der Spiegel Oberfläche zeigte, würden sich die beiden gut verstehen. Ich gab Yuna den Spiegel in die Hand. Begeistert unterhielt sich diese mit Madame Spiegelglas über ihre Vorgeschichte, während ich lauschte. Nur zu gern hätte ich Madame Spiegelglas selbst über ihre Vergangenheit ausgequetscht, doch ich überließ Yuna gerne den Vortritt. Sie war abgelenkt, der traurige Gesichtsausdruck verschwunden und ich war erleichtert. Vielleicht bestand eine Chance, dass wir Freunde werden, selbst wenn das hieß, dass ich mit Aria klarkommen musste. Was hatte Diana noch gleich gesagt? Lass dich nicht von Äußerlichkeiten abschrecken.

 Was hatte Diana noch gleich gesagt? Lass dich nicht von Äußerlichkeiten abschrecken

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~1090 Wörter

Die Idee mit dem Buchausschnitt am Anfang des Kapitels stammt nicht von mir, sondern von @MorganKingsman. Ich dachte es passt ganz gut in dieses Kapitel.

SilbergrauWhere stories live. Discover now