Kapitel 30

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Ich zählte sehnsüchtig die letzten Tage bis zur Halbjahrespause

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Ich zählte sehnsüchtig die letzten Tage bis zur Halbjahrespause. Nicht nur warteten zwei Wochen ohne Stress und Arbeit auf mich, sondern würde ich auch endlich meine Familie wieder sehen. Damit meinte ich meine ganze Familie, denn ich würde zusammen mit meiner Mutter und Noah meinen Vater in Palona besuchen. Zugegeben hatte ich mir das Familientreffen etwas anders vorgestellt, aber immerhin konnte ich sie bald alle wiedersehen.

Vorher jedoch wartete noch ein Nachmittag mit Anouk auf mich. Die meisten Jungmagier waren heute morgen schon abgereist, darunter auch meine beiden Zimmernachbarinnen. Ich allerdings würde noch zusammen mit Anouk letzte Kleinigkeiten für unser Botanik-Projekt besprechen und erledigen, da wir beide jeweils eine Pflanze über die zwei Wochen mit nach Hause nehmen würden und anschließend, wenn wir wieder Unterricht hatten, das Projekt mit einem Dokumentation über die ausgewachsene Pflanze beenden. Schon jetzt waren die Schlingpflanze, deren Art sich -aus welchem Grund auch immer- "tückisches Mauerblümchen" nannte, prächtige Exemplare. Von ihrem beeindruckend schnellen Wachstum zeugten vor allem prächtige grüne Schlingen und spitze Stacheln, die hin und wieder von schneeweißes zarten Blüten verdeckt wurden.

Nun saßen Anouk und ich also im Gewächshaus, da mir die Bibliothekarin strengsten verboten hatte jegliche Pflanzen mit in die Bibliothek zu bringen. Dieses Verbot hatte sie erlassen, nachdem ich mit Erdkrümeln bestickter Kleidung und Schmutz unter den Fingernägeln zur Arbeit aufgetaucht war. Sie hatte einen hochroten Kopf bekommen und ihr Hals war aufgebläht, sodass sie einem äußerst empörten Frosch glich. Daraufhin hatte sie mich nach draußen geschickt und verordnet, dass ich erst wieder die Bücher anfassen dürfte, wenn sie sicher war, dass diese im Nachhinein nicht so aussahen als wären sie im Garten vergraben worden. Meiner Meinung nach war diese Reaktion ein wenig übertrieben gewesen.

Jedenfalls war die Bibliothek als Treffpunkt keine Option. Da Anouk und ich so gut wie fertig waren besprachen wir nur noch wie wir unsere tückischen Mauerblümchen die nächsten zwei Wochen pflegen und gießen würden um möglichst gleichaussehende Exemplare zu erhalten. Außerdem musste Anouk seine Pflanze umtopfen, da sie ein wenig größer geraten war als die meine. Vorsichtig hob ich die Pflanze aus dem zu klein geratenen Topf. Als Anouk mir die stachelige Schlingpflanze abnehmen wollte, zuckte er fluchend zurück und verzog sein Gesicht ein wenig. Blut quoll aus seinem Daumen und tropfte auf die hölzerne Tischplatte. Schnell hob ich die Pflanze in den neuen Topf und zog ein geblümtes Taschentuch aus meiner Tasche. "Schon gut, es hat nicht besonders weh getan", erklärte mir Anouk schmunzelnd, als ich seinen Daumen in das Tuch wickeln wollte. Ich lächelte schief.

"Hast du den Dorn nicht gesehen?", fragte ich, da er ausgerechnet in den größten und unübersehbarsten Dorn gefasst hatte. Anouk lachte vergnügt. "Ich mag deinen Humor."

"Meinen Humor? Ich meine es ernst, wie konntest du denn mitten in den Dorn fassen? Du musst mit deinen Gedanken ganz woanders gewesen sein." Ich schüttelte lächelnd den Kopf.

"Ich hab ihn nicht gesehen", antwortete Anouk mit einem Grinsen, dass mir bedeutete, dass er mich zum Narren hielt. "Na dann bist du eben halb blind. Der Dorn war direkt vor deinen Augen", hielt ich ihm nun ein wenig beleidigt vor. Daraufhin konnte sich Anouk nicht mehr zurückhalten. Er lachte mich doch ernsthaft aus! Ich verschränkte die Arme vor der Brust und wartete auf eine Erklärung.

"Nicht nur halb", erklärte er schmunzelnd. Eine verlegene Röte legte sich auf meine Wangen, als ich verstand.
"Ganz blind", murmelte ich kleinlaut und peinlich berührt, dass ich es so spät bemerkt hatte. Nun stutzte Anouk.
"Du wusstest es nicht?" Ich schüttelte den Kopf, bevor ich daran denken konnte, dass er das ja gar nicht sehen konnte. "Nein, tut mir leid."
Ein besänftigender Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. "Keine Sorge, ich hätte es dir sagen sollen", sagte er und fügte hinzu, "manchmal vergesse ich selbst, dass ich kaum sehe."

"Du vergisst es?"

"Ich war nicht immer blind. Manchmal wenn ich etwas sehr eindringliches wahrnehme , ist es so, als könnte ich es sehen genauso wie ich in meiner Erinnerung gesehen habe. Ich sehe nicht physisch, aber nicht weniger echt. Verstehst du?"
"Nein", gab ich zu.
"Hast du ein Lieblingsessen?"
"Ich glaube es ist das Vanille Gebäck aus meiner Kindheit. Man kann es nur Sonntags in einer einzigen Bäckerei in meiner Stadt kaufen."

"Stell dir vor, du gehst in diese Bäckerei und riechst den intensiven Duft von Vanille Gebäcken, die gerade frisch aus dem Ofen kommen. Der Geruch ist genauso wie du ihn in Erinnerung hast. Wenn du dich ganz darauf konzentrierst, ist es beinah so, als ob du den süßlichen Geschmack auf der Zunge hättest." Er wartete einen Moment um sicherzustellen, dass ich ihn verstanden hatte. Ich gab einen zustimmendes Geräusch von mir.
"So ähnlich ist es bei mir. Nur, dass ich mir angewöhnt habe, jeden Gegenstand um mich herum wahrzunehmen, auch ohne Erinnerungen daran."

"Beeindruckend."

"Eher notwendig, aber danke", antwortete er schmunzelnd und ich meinte zu hören, dass in dem 'danke' mehr mitschwang als das es nur um das
Kompliment ginge.

"Eher notwendig, aber danke", antwortete er schmunzelnd und ich meinte zu hören, dass in dem 'danke' mehr mitschwang als das es nur um das Kompliment ginge

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~823 Wörter

SilbergrauWhere stories live. Discover now