✧ Kapitel 19 ✧

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Sie erwartete sehnlichst den Gnadenstoß. Sie Umgebung um sie war verstummt, doch sie spürte nichts.
Fühlte sich so der Tod an?
Blinzelnd öffnete sie die Augen, ihr Körper lag kraftlos am Boden.
Weiße Blumen kitzelten ihre Nase, vor ihr saß die junge Frau mit violetten Haaren im Schneidersitz.
"Habe ich dir nicht gesagt, dass du zu schwach bist?", fragte sie Emma.
"Jetzt sieh dir nur an, in was für einer Lage du steckst."
Die Frau hievte sich auf die Beine und packte sie an den Schultern, zog sie nach oben.
Emma blickte direkt auf die reale Welt, sie lag hilflos und verletzt am Boden, während Norman über ihr thronte.
"Der, der dir vorgab, dich zu lieben, ist gerade dabei, dich zu töten. Du bist zu blind um das zu sehen, und wehrst dich nicht einmal. Er will dich töten."

Emma spannte ihren Körper an, so kraftlos sie auch war.
"Das stimmt nicht", knurrte sie wütend.
Die Frau sah sie überrascht an.
"Er würde mich niemals töten wollen!", schrie Emma sie an. Ihr Ghulauge begann zu leuchten, sie ließ ihre Krallen freiwillig erscheinen. Unter ihr färbten sich die weißen Blumen rot.
"Ich bin eine Ghula. Ich kann nur Menschenfleisch essen, das habe ich akzeptiert. Aber ich werde es nicht akzeptieren, wenn jemand meine Familie in den Dreck zieht! Lieber sterbe ich durch seine Hand, als durch jemanden wie dich!"
Die Frau war plötzlich verschwunden.
"Bist du dir sicher, Emma?"
Links von ihr stand Isabella, sie betrachtete sie mit liebevollen Augen.
"Komm her, meine Kleine."
"Nein", entgegnete Emma wütend.
"Auf deine Illusionen falle ich nicht rein, du bist nicht echt!"
Isabella wandte sich von ihr ab und begann, wie eine Irre zu lachen.
"Hilflose, kleine Emma... Du denkst, du kennst die Welt? Du hast dein Leben behütet im Waisenhaus gelebt, diese Vergangenheit begleitet dich, solange du diese Nummer am Hals trägst! Du wirst schon noch sehen, was die Welt von Leuten wie dich hält."

•••

Das Rauschen des Regens ließ Emma aufblinzeln. Ihr Schädel brummte, ihre Sicht kehrte allmählich zurück.
Sie drehte den Kopf zur Seite und blickte leicht lächelnd zu Norman, dieser starrte sie ungläubig an.
Er nutzte seine Quinke, um sich abzustützen, und doch sank er auf die Knie. Er wirkte wie ein kleiner, hilfloser Junge. Er konnte nicht einmal klar sprechen.
Mühsam raffte Emma sich auf, beugte sich zu Norman. Für einen kurzen Moment sahen sie sich direkt an, dann warf er seinen schwachen Oberkörper nach vorne, klammerte sich an Emma fest.
Er legte seinen Kopf auf ihrer Schulter ab, versteckte sein Gesicht. Ein jämmerliches Schluchzen verließ gedämpft seinen Mund.
"Ich dachte, ich hätte dich für immer verloren", winselte er. Emma strich ihm beruhigend über den Rücken, auch sie konnte sich die Tränen nicht mehr zurückhalten. So lange wollte sie schon zu ihm zurückkehren, ihn in ihre Arme schließen und wieder zusammen den Alltag leben.
"Ich bin wieder da, Norman", flüsterte sie erleichtert.
"Du warst die ganze Zeit vor meiner Nase und ich habe es nicht bemerkt", warf er sich vor.
"Und du bist nicht sauer, dass ich dich die ganze Zeit belogen habe?"
Norman richtete sich auf, seine Hand ruhte jedoch weiterhin auf ihrer Schulter. Mit einem breiten Lächeln sah er sie liebevoll an.
"Wieso sollte ich? Du bist doch wieder da, und das ist alles was zählt."

Sein Lächeln verschwand abrupt, seine Augen waren weit aufgerissen. Immer stärker spannte er sich an, in seinem Rücken steckten die Geschosse einer Federkralle, ließen seinen weißen Mantel sich rot verfärben.
Emma blickte auf die Flecken hinab, ihr wurde schwindelig. Panisch warf sie ihren Kopf herum, während sich ihr Herzschlag immer schneller wurde. Ihre Kehle schnürte sich zu, die Luft blieb ihr weg, doch noch immer suchte sie krampfhaft nach einer Lösung.
Mit viel Mühe erkannte sie zwei Gestalten im Baugerüst. Einer der beiden war Ito, in dem anderen meinte sie Furuta zu erkennen.
Warte, Furuta!

Emma schüttelte ihren Kopf und atmete einmal tief ein, dann hievte sie Norman auf ihre Arme. Die Geschosse lösten sich langsam auf, ließen das Blut auf den nassen Boden tropfen.
Ihr blieb nicht viel Zeit.
Flink sprang sie auf das Gebäude zu, auf dem Stein rutschte sie gelegentlich weg, jedoch fing sie sich wieder.
Zielsicher balancierte sie auf dem Zwischenholm, stieß sich am Stellrahmen ab und kletterte so die Fassade empor.
Allein ihre Krallen spendierten ihr die Sicherheit, die ihre Hände nicht geben konnten.
Geschickt landete Emma in den vier Wänden des ungebauten Hauses, sie sank auf ihr rechtes Knie hinab.
Furuta blickte sie mit überraschtem Gesicht an.
"Bitte, retten Sie ihm das Leben", schnaufte sie erschöpft.

Der Schwarzhaarige schüttelte den Kopf.
"Ich hab' deine Operation nicht einmal selber durchgeführt, ich hab' nur das Theoriewissen", protestierte er.
"Das ist mir egal. Es war Ihr Werk, mich zu einer Ghula zu machen, also beherrschen Sie auch das nötige Wissen, ihm das Leben zu retten!"
Furuta seufzte genervt auf.
"Meine Güte, dann leg' dich hin." Er zeigte auf eine provisorische Liege und drehte sich um. Aus einem kleinen Koffer holte er drei gefüllte Spritzen.
"RC-Suppresivum und Narkosemittel, ein Arzt ist immer vorbereitet", schmunzelte er und trat auf Emma zu. Sie hatte Norman auf die Liege gelegt, sich selber aber auf den Boden.
"Dein Ghulorgan regeneriert sich wieder, deswegen nehme ich dir die Hälfte davon. Wie, als wenn du eine Leber spenden würdest", erklärte er und verabreichte ihr beide Spritzen nahe des zu operierenden Ortes.
Emma schloss die Augen, wartete geduldig auf die Wirkung der Narkose, die ihre Lider schwer werden ließ.
Die Wirkung trat jedoch nach etlichen Minuten nicht ein.
Sie hob ihren Kopf leicht an, eine Hand drückte sie jedoch wieder zurück.
"Bewege dich nicht, du Dummkopf! Ich habe mich gerade an die Arbeit gemacht", schnauzte Furuta.
Erschrocken kniff Emma die Augen zusammen.
"Das ist keine Vollnarkose?", fragte sie mit bebender Stimme.
"Das ist eine Ruine, denkst du ernsthaft, ich hab' genug Zeugs hier um dir eine Infusion zu verabreichen? Hier gibt's keine speziellen Extrawünsche!"

•••

Vorsichtig öffnete Emma die Augen. Sie hatte das Gefühl, eingeschlafen zu sein, ihre Glieder fühlten sich taub an. Ohne den Kopf zu heben, entdeckte sie Furuta am Ende des Raumes. War ihre Operation schon wieder beendet?
Sie hob ihren Oberkörper an, mühsam stellte sie sich auf. Ihr Magen machte sich bemerkbar, der plötzliche Hunger nahm ihr Gehirn ein und machte sie verrückt.

Sie hörte die Liege knarzen, sofort sah sie zur Seite.
Norman war aufgewacht, starrte verdutzt seine Hand an, als hätte er sie jetzt gerade zum ersten Mal gesehen.
"Ich dachte, ich wäre tot", staunte er und blickte zu Emma.
"Ich dachte, ich wäre gestorben."
"Halt' den Rand, diese dumme Kuh hat ihr Leben auf's Spiel gesetzt, um deins zu retten", keifte Furuta unbeeindruckt. Mit einem Koffer in der Hand stand er an der Fensteröffnung.
"Das RC-Suppresivum wirkt nicht lange, aber ihr seid durchaus schwächer geworden."

Norman hob seine Augenbrauen skeptisch.
"Und was bedeutet das jetzt? Kein Fachchinesisch, bitte."
Emma schluckte.
Was würde Norman nur von dieser tiefen Veränderung halten?

IDENTITY | [The Promised Neverland • Tokyo Ghoul FF]Where stories live. Discover now