✧ Kapitel 8 ✧

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"Eine Maske, hm?", wiederholte Uta und beugte sich hinunter, blickte auf Emma hinab.
"Ist zwar schon spät, aber komm mit."
Er führte sie in den hinteren Bereich und deutete ihr, sich auf den kleinen Hocker hinzusetzen.
Emma entledigte sich ihrem Mantel, nervös tappte sie mit dem Fuß auf dem Boden herum. Uta kam mit verschiedenen Maßbänden zurück und begann, ihren Kopfumfang auszumessen.
"Dann frage ich dich mal aus", meinte er ruhig.
"Dein Kindheitstraum?"
"Auf einer Giraffe reiten", antwortete sie schmunzelnd. Sie erinnerte sich zwar nur dunkel daran, aber als kleines Kind erzählte sie freudestrahlend, dass sie unbedingt auf einer Giraffe reiten wollte, wenn sie adoptiert worden wäre.
"Außergewöhnlich", kommentierte Uta.
"Hast 'nen Freund?"
Bejahend nickte Emma, jedoch rückte der Ghul ihren Kopf wieder zurecht.
"Habe ich mir denken können. Die Kerle buhlen wahrscheinlich um dich."

Uta begann sich auf einem kleinen Zettel Notizen zu machen.
"Sag mal, bist du irgendwann schonmal einem Ghul mit Clownsmaske begegnet?", fragte er nachdenklich und musterte Emma von oben bis unten. Er reckte seine Nase in die Höhe und begann, die Gerüche um ihn herum aufzunehmen, wie ein räudiger Straßenhund.
Sie schüttelte den Kopf, sie kann sich an keine Begegnung mit einem Ghul erinnern, auf dem diese knappe Beschreibung zutreffen würde.
"Hm, komisch", murmelte Uta nur.
"Im Dezember ist einer von uns gestorben und seine Organe wurden einem Menschen transplantiert."
"Du weißt davon?", rief Emma aus, dann presste sie ihre Handfläche auf den Mund.
Uta begann zu lachen.
"Gerüchte verbreiten sich nunmal wie ein Lauffeuer... Aber immerhin weiß ich, dass du diese neue künstliche Halbghula bist."
Sie verfluchte sich selber, dass ihr so unüberlegt diese Information herausgerutscht war.
Endlich begann Uta, die Materialien zu sammeln.
"Das wird jetzt die Nacht dauern, du kannst dich irgendwo schlafen legen. Keine Sorge, ich fresse dich schon nicht", scherzte er und deutete auf einige Bänke, die am Rande des Raumes standen.
"Du hast übrigens ein nettes Tattoo am Hals."
Instinktiv richtete sich Emma den Kragen ihres Hemdes, sie hatte sich ständig bemüht, dass diese Kennnummer nicht sichtbar war.
"Ich habe auch so ein Tattoo am Hals", bemerkte Uta, der mittlerweile seinen Rücken zu Emma gedreht hatte. Diesmal hielt sie sich zurück, sie wollte nicht auch noch das Geheimnis um die Plantagen verraten.
"Es wäre vielleicht noch schön, wenn die Maske das Tattoo überdeckt", meinte Emma noch, ehe sie sich hinlegte.

•••

"Entschuldigen Sie die Störung", erklang eine vertraute Stimme, ganz leise. Emma öffnete die Augen.
"Haben Sie vielleicht eine junge Frau mit orangenen, kurzen Haaren und grünen Augen gesehen?"
Emmas Herz blieb für einen Moment stehen. Die besorgte Stimme gehörte zu Norman, und er war ihr dicht auf den Fersen. Sie kniff die Augen zusammen, zog den Mantel noch weiter über ihren Kopf, und hoffte, dass Uta sie nicht verraten würde.
"Sorry, hab' nichts gesehen", antwortete der Ghul lässig.
"Braucht ihr sonst noch was?"
Dankbar atmete sie aus, jedoch gab es noch keine Entwarnung, Norman war noch immer im Laden.
"So kommen wir nicht weiter, Norman. Wir müssen langsam das CCG einschalten", sprach eine weitere Person, die Emma als Ray identifizierte. Sie hörte den niedergeschlagenen Unterton der beiden heraus, am liebsten würde sie einfach aufspringen und sie erlösen. Das durfte sie aber nicht, wie würde Norman bloß reagieren?

"Beeilen Sie sich bitte, ich muss weiterarbeiten", meinte Uta und scheuchte die beiden heraus. Emma spürte, wie der Mantel angehoben wurde.
"Sieht so aus, als würden sie dich bereits suchen", bemerkte er. "Wenn ich du wäre, würde ich hier so schnell wie möglich verschwinden. Schließ' dich 'ner Organisation an oder so."
"Anscheinend bleibt mir nichts anderes übrig", seufzte Emma auf, dann lächelte sie ihm dankend an. Uta streckte ihr eine Maske entgegen.
"Probier' die mal an."

Emma betrachtete sich im Spiegel. Die Maske bedeckte ihre Augen und zog sich bis zur Nase herunter, der Mund blieb frei. Am Hinterkopf schloss sich die Maske, die Seiten ihres Halses bedeckte sie ebenfalls.
Zwei kleine Löcher waren auf dem Nasenrücken festgesetzt und zwei kleine Hörner ragten aus der Kapuze hervor.
"Ich habe die Maske aus Quinken-Metall angefertigt, ist quasi nur ein Testlauf", erklärte Uta und betrachtete mit stolzem Blick sein Werk.
"Vielen Dank!", rief Emma aus. "Wie viel kostet sie?"
"Ich kann nicht garantieren, dass sie so funktioniert wie eine normale Maske, deshalb geht die auf's Haus."
Sie sprang vor Freude fast in die Luft, doch ihr Blick fiel wieder auf den Spiegel. Irgendein vertrautes Gefühl strahlte diese Maske aus, Emma konnte sich allerdings nicht im geringsten daran erinnern, woher sie diese Maske wiedererkannte.

•••

Mit der Maske im Gesicht sprang Emma an den Häuserwänden einer kleinen Gasse hinauf. Sie wollte unbedingt ihre verbesserten physischen Fähigkeiten ausprobieren. Mit Leichtigkeit erreichte sie eines der höher gelegenen Fensterbretter, dann landete sie wieder elegant auf dem Boden.
Am helllichten Tag musste sie aufpassen, nicht vom CCG abgefangen zu werden, sie brauchte einen besseren Ort zum Testen. Sie erinnerte sich an den 24. Bezirk Tokyos, die unterirdischen Gänge, die einst von Ghulen erschaffen worden sind. Seit dem Frieden zwischen Mensch und Ghul versteckten sich dort nur schwächliche Ghule, die sich den neuen Gesetzen nicht unterwerfen wollten.

In der Gasse fanden sich zwei Gullideckel, einer davon musste der Eingang zum 24. Bezirk sein. Emma hob den ersten Deckel an und kletterte die lange Leiter hinunter.
Gedimmtes Licht beleuchtete den grauen, breiten Gang. Emma fühlte sich ein wenig unwohl, ein Rückzug würde für sie dennoch nicht infrage kommen. Sie war schließlich eine Halbghula, sie konnte sich verteidigen.

"Oh, wer ist denn die Madame hier?"
Emma zuckte zusammen, als ein großer, formell gekleideter Mann mit violetten Haaren ihr entgegen trat. Genau wie sie trug auch er eine Maske.
"Oder doch eher Mademoiselle?"
"Wer sind Sie?", entgegnete Emma angespannt. War dieser Kerl einer der Guten? War er einer der Bösen? Sie konnte ihn nicht einschätzen.
Auf der anderen Seite erschien eine Gruppe weiterer Gestalten.
"Shuu, lass sie gehen!"
Es war Touka, die sich ihm drohend entgegenstellte.
"Ach komm schon, ich habe ihr doch nichts getan! Sie ist aus freien Stücken hier!", protestierte Shuu, dann sah er mit einem freundlichen Lächeln auf Emma herab.
"Ich werde dir auch in Zukunft nichts antun, versprochen."
"Herr Tsukiyama, nur weil sie registriert sind, heißt das nicht gleich, dass Sie hier unten Unfug treiben können!" Kuramoto war zwar etwas größer als Touka, aber trotz seiner Quinke in der Hand sah er ziemlich unbeholfen aus.
"Gut", meinte Shuu schulterzuckend.
"Dann lassen wir die Mademoiselle entscheiden, mit wem sie mitgehen möchte. Da kann mir auch niemand Kidnapping vorwerfen."

Shuu kehrte ihnen seinen Rücken zu und schlenderte den Gang entlang, Touka blickte Emma erwartungsvoll an. Sie konnte jetzt jedoch nicht mit ihnen mitgehen, sonst würde der Plan scheitern, noch bevor er ausgeführt werden konnte.
Sie drehte sich von der kleinen Gruppe der CCG-Ermittler weg und folgte Shuu in die Weiten des 24. Bezirkes.
Sie hoffte nur, dass sie diese Entscheidung nicht irgendwann bereuen würde.

IDENTITY | [The Promised Neverland • Tokyo Ghoul FF]Where stories live. Discover now