✧ Kapitel 15 ✧

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Allein trottete Emma durch die Dunkelheit der nächtlichen Stadt. Orientierungslos irrte sie umher, so weit ihre müden Beine sie tragen konnten.
Nachdem sie zu zweit ihren Auftrag vergeigten und sich Shuu ihnen angeschlossen hatte, musste sie sich im neuen, provisorischen Hauptquartier des Phönixbaums eine Standpauke von Ayato anhören.
Im Endeffekt musste sie doch feststellen, dass Ayato doch ein einfühlsamer Typ war, wie Hinami es erklärt hatte. Er wusste nur nicht so Recht, wie er seine Emotionen passend ausdrücken sollte, weshalb er schließlich ein agressives Nervenbündel war.

Die Erschöpfung drohte, sie zu übermannen und Emma wollte sich gerade auf eine niedrige Mauer niederlassen, da erkannte sie, wo ihre Beine sie hingetragen hatten.
Sie fand sich vor ihrer eigenen Haustür wieder.
Vorsichtig schlich sie sich zu einem Fenster und lugte hinein.
In einem abgedunkelten Raum, auf einem fein säuberlich gemachten Bett, saß Norman, die Knie umklammernd.
Mit einer schlaffen Hand hielt er ein eingerahmtes Bild, durch das leicht geöffnete Fenster konnte Emma seinen Worten lauschen.
"Heute war ein wirklich schöner Tag", murmelte er an das Bild gewandt.
"Don und Gilda haben heute endlich geheiratet, war echt lustig. Und natürlich haben wir alle auch an dich gedacht."
Emma streckte die Hand aus und berührte mit ihren Fingerkuppen sanft das Fensterglas.
"Weißt du, wir vermissen dich alle sehr. Bitte komm schnell wieder zurück..."
Norman strich mit dem Finger einmal über das Bild, dann stellte er es zurück auf den Nachttisch.
Tränen rollten über sein Gesicht, während er sich zum Fenster drehte und erstarrte.
Er fixierte den Punkt auf Emmas Maske, Sekunden lang verharrten sie so, bis Norman blitzschnell nach einem silbernen Aktenkoffer griff und aus dem Bett sprang.

Emma wollte flüchten, doch ihre Beine wollten sich nicht bewegen. Ein Teil von ihr wollte Norman in ihre Arme schließen, ihn trösten und für ihn da sein, jedoch wusste sie, dass ihre Mission noch lange nicht vorbei war.
Norman stand nun vor ihr in einem lockeren Pyjama, die gefährliche Quinke auf sie gerichtet.
"Komm jetzt einfach mit", knurrte er.
Unsichere Schritte führten sie zur Haustür in die vertraute Wohnung.
Norman rückte einen Stuhl zurecht und stellte einen kleinen Laptop bereit.
"Ich weiß, dass du mir nicht mündlich antworten wirst, aber das wird mich nicht daran hindern, dich zu befragen", sprach er drohend und nickte in Richtung des Aktenkoffers.
"Sonst muss ich zu schweren Maßnahmen greifen."
Sie setzte sich hin und starrte auf den weißen Bildschirm.

"Wer ist Mujika?", fragte er direkt und starrte sie mit seinen blauen Augen eindringlich an.
Ihre Hände zitterten, als sie die erlogene Antwort eintippte:
>>Ich bin Mujika.<<
"Was weißt du über Parallelwelten?", fragte er ohne Umschweife, hob aber skeptisch eine Augenbraue.
Emma setzte ihre Finger auf die Tastatur und tippte.
>>Es soll eine Welt geben, in der menschenfressende Monster leben. Das hat mir einer vom Phönixbaum erzählt.<<
Norman seufzte auf.
"Woher hast du diese Maske?"
>>Aus dem Maskenladen von Uta.<<
"Wie ist deine Beziehung zu Tsukiyama?"
>>Er hat mich aufgenommen.<<
Der Größere erhob sich von seinem Platz, er schlenderte zum Küchenschrank und griff nach einem einfachen Apfel.
"Was hast du beim Phönixbaum vor?", fragte er monoton.
Emma hielt inne. Ihr fiel keine passende Lüge ein, und ein Risiko durfte sie auch nicht eingehen. Würde Norman sie wirklich umbringen? Bluffte er nur?
Sie wusste es nicht. Sie wusste nicht, wie Norman wirklich handeln würde, er war zu unberechenbar geworden.
>>Das darf ich nicht sagen<<, tippte sie zitternd und ging dieses Risiko ein. Norman rieb sich die Schläfe, als er sich die Antwort durchlas, er atmete tief ein.
"Ich rate dir eines", sprach er ruhig.
"Lass dich registrieren, dann stehst du mehr oder weniger unter staatlichem Schutz."
Emma streckte den Arm aus und zog den Laptop wieder in ihre Richtung, sie hatte selber Fragen, dessen Antworten sie nur zu gerne hören würde.
>>Warum tötest du mich nicht gleich, Todesengel?<<
Er zuckte leicht zusammen, kaum bemerkbar für ein normales, menschliches Auge.
"Außerhalb meiner Dienstzeit wäre das ein einfacher Mord, selbst bei einer unregistrierten Ghula", antwortete er, ohne die Miene zu verziehen.

"Außerdem habe ich noch eine Bitte an dich."
Er verschwand für einen Augenblick im Schlafzimmer, kam mit einem eingerahmten Foto in der Hand zurück, er stellte es vor ihr auf.
"Hast du sie schon einmal gesehen?"
Emma stockte der Atem. Es waren zwei Fotos, in einer Collage vereint. Das eine Bild zeigte Norman und Emma im Waisenhaus. Es war das Bild, das Ray von ihnen schoss, Emma sah ganz überrascht von dem Kamerablitz aus. Auf dem zweiten Bild waren sie als Erwachsene zu sehen, in diesem Augenblick hatte Norman ihr einen ganzen Blumenstrauß geschenkt und Ray hatte diesen Moment für die Ewigkeit eingefangen. Unwillkürlich musste Emma lächeln.
"Sie wird schon seit mehreren Monaten vermisst, wahrscheinlich bewegt sie sich in Gesellschaft von Ghulen", erklärte Norman mit einem tieftraurigen Unterton, als würden ihm gleich die Tränen kommen.
"Wenn du sie findest und heil wieder zurückbringst, vergebe ich dir all deine Schandtaten."

Ihr Herz wurde schwer, erneut kam in ihr der Drang auf, sich die Maske einfach vom Gesicht zu reißen, doch sie musste das Verlangen unterdrücken. Sie drehte ihren Kopf wieder dem Bildschirm zu und tippte:
>>Ich werde sie finden, das verspreche ich dir. Aber dafür habe ich noch eine Frage.<<
Norman hob erneut die Augenbraue, seine Miene allerdings war freundlicher geworden.
"Wenn das der Preis ist, damit du Emma findest, werde ich ihn zahlen", versicherte er ihr.
>>Was hat es mit dem Namen 'Mujika' auf sich? Warum macht jeder so eine Wirbel darum?<<
Der Weißhaarige seufzte auf und lehnte sich zurück.

"Mujika ist ein Monster aus der Parallelwelt, nach der ich dich gefragt habe. Anders als die anderen Monster fressen sie und ihr Begleiter Sonju kein Menschenfleisch, stattdessen halfen sie Kindern, aus ihrer Gefangenschaft zu fliehen. Aber in dieser Welt sind die beiden eher in Verruf geraten, denn ein großer Teil von Mujikas Erbgut findet sich in dem Krallenorgan der berüchtigten Ghula Liz Kamishiro wieder. Diese wiederum wuchs in einer Einrichtung namens 'Sonniger Garten' auf, dort wurde versucht, Halbghule zu kreiren, und das mit Mujikas DNS."
Emma nickte verstehend, wohl wissend, dass sie diese Flut an Informationen erst einmal verarbeiten musste.
Dann muss ich mehr zu Liz Kamishiro herausfinden...

Sie erhob sich von ihrem Platz und verbeugte sich tief vor Norman als Dank. Mit neu gewonnenen Erkenntnissen und Selbstsicherheit stakste sie zur Haustür und öffnete sie, nur um Shuu Tsukiyama davor zu sehen.
"Da bist du ja, Mujika", seufzte er erleichtert auf.
"Ich dachte schon, der Todesengel hätte dich umgebracht."
"Ich hätte nicht gedacht, dass die Beute selbständig in die Höhle des Löwen wandert", knurrte Norman den viel größeren Ghul an, Shuu jedoch belächelte es nur selbstgefällig.
"Spuck' keine großen Töne, wenn du nicht einmal gegen mich gekämpft hast", entgegnete Shuu ihm entspannt und blickte dann auf Emma herab.

"Komm', wir gehen zurück zu den anderen."

IDENTITY | [The Promised Neverland • Tokyo Ghoul FF]Where stories live. Discover now