✧ Kapitel 16 ✧

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Ein unbehagliches Schweigen legte sich über sie, als Emma Shuu den ganzen Weg bis zum neuen Hauptquartier des Phönixbaums.
Es war nur eine dunkle, einsame Gasse mit Zugang zur Kanalisation, der Unterschlupf bot vor allem tagsüber keinerlei Schutz.
"Mademoiselle Emma", brach Shuu die Stille und ließ sich etwas zurückfallen.
"Du weißt, der Phönixbaum duldet keine Verräter."
Emma warf den Kopf nach hinten.
"Aber ich kann auch schön still bleiben und niemanden von deinem kleinen Rendezvous mit dem Ermittler erzählen, dafür musst du nur einen kleinen Preis zahlen."
"Und der wäre?", hakte Emma nach, sie blieb nun stehen, während Shuu wieder zu ihr aufholte.
"Du wirst dich früher oder später von mir fressen lassen."
Wie aus dem Nichts schnellte Emmas Knie nach oben und traf den Ghul an seiner empfindlichsten Stelle.
"Was bist du denn für ein komischer Typ?", schimpfte sie empört und machte kehrt, während Shuu keuchend zu Boden ging.
Ghule konnten sich zwar schnell regenerieren, vor Schmerzen jedoch waren sie nicht geschützt.

Schwer atmend endete sie ihre Flucht in einer finsteren Gasse, ihr neuer Unterschlupf.
"Hä? Stimmt irgendwas nicht?", fragte Ayato verwundert aus dem Dunklen. Emma schüttelte nur den Kopf und winkte ab, noch konnte sie keine Worte formen.
"Hast du vielleicht 'ne Idee, wo Shuu gerade ist?", fuhr er fort, drehte sich jedoch weg.
Wütend stapfte der Gourmet in die Gasse, die Hand rieb über seinen Schritt, als er stehen blieb. Emma musste leicht schmunzeln, sie wähnte sich in Sicherheit.
"Dieses Balg ist eine Verräterin!", polterte er laut los und richtete seinen langen Zeigefinger auf sie.
"Sie hat sich mit dem Todesengel getroffen!"
Nun tauchte auch Eto aus der Dunkelheit auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Verurteilend blickte sie zu Shuu hinauf, dann direkt zu Emma. Ihr lief es eiskalt den Rücken hinunter.
War sie hier nun doch in Gefahr?
"Shuu, du weißt... wir vertrauen dir weniger als einem der Quinks, der sich als Ghul ausgibt", seufzte sie und grinste ihn frech an.
"Dieses Mädchen hier ist ein Teil des Phönixbaums, natürlich vertrauen wir ihr."
Auch Emma war nun überrascht, komplett verdutzt starrte sie die Anführerin an. Müsste ihr nicht am meisten misstraut werden?
Schließlich trat sie dem Phönixbaum zuletzt bei und müsste sich das Vertrauen der Führung erst einmal verdienen.

"Gut, dann vertraut mir eben nicht", entgegnete Shuu trotzig, er wirkte fast schon wie ein bockiges Kleinkind.
"Aber wenn der Todesengel hier einmarschiert, dann kommt gefälligst nicht bei mir angekrochen."
"Du bist kindisch, Shuu", meinte Eto kopfschüttelnd.
"Du erinnerst dich doch noch an die Sache mit Ken, oder?"
Das rechte Augenlid des Ghuls zuckte, er knirschte mit den Zähnen.
"Emma ist eine Halbghula, genau wie Ken. Genau deshalb steht sie auch unter unserem Schutz."
"Wir haben deine Kernabsicht bereits durchschaut", fügte Ayato monoton hinzu.
"Wie soll eigentlich deine Unterstützung aussehen?"
Shuu raffte sich zusammen, er warf seinen Kopf hin und her.
"Ich hätte euch gerne meine Residenz als Unterschlupf angeboten, jedoch wird die sehr häufig vom CCG kontrolliert, wegen der Auktion", meinte er etwas niedergeschlagen.
"Deshalb kann ich euch nur helfen, einen neuen Unterschlupf zu finden, bis dahin müsst ihr aber in der Gasse verweilen."
Ayato schnalzte lautstark mit der Zunge und blickte den Größeren verächtlich an.
"Und wie willst du uns nun helfen? 'Nen neuen Standort finden wir locker, was willst du wirklich von uns?"
Der junge Ghul trat mit großen Schritten und einer agressiven Haltung zu Shuu, doch Eto streckte die Hand aus und drückte ihn am Brustkorb zurück.
Emma wich instinktiv nach hinten.

"Was ist daran so verwerflich, einfach guten Freunden zu helfen?", lachte der Gourmet erzürnt und grinste Ayato angsteinflößend an.
"Ich erinnere mich, dass du auch gut mit den Tauben befreundet bist", knurrte der Kleinere zurück.
Emma spürte ein Zupfen an ihrem Ärmel, neben ihr stand Hinami und beugte sich zu ihrem Ohr.
"Ich habe Schritte gehört, als würden hier Leute auf uns zu marschieren", flüsterte sie nervös.
Emma blickte sich um. Sie hatte nicht einen Schritt gehört, nicht ein verdächtiges Geräusch.
"Bitte, wir müssen hier weg", flehte die Brünette leise.
Die Spannung zwischen Shuu und Ayato wurde stetig stärker, bevor etwas schreckliches geschah, musste jemand einschreiten.
"Ayato", zischte Emma beunruhigt, sie presste ihren Daumen auf den Mittelfinger und schnipste.
Auch Hinami funkelte ihn nervös an, bis er verstand.
"Hast du die Tauben hierher gebracht?", fauchte er wütend und ließ seine Kralle ausfahren. Er nahm etwas Anlauf und sprang in die Luft, um spitze Projektile auf Shuu zu schießen.
Er jedoch ließ seine violette Panzerkralle sich um seinen Arm schlängeln, er wehrte jedes Projektil mit Leichtigkeit ab.

Emma erinnerte sich daran, wie Norman ihr einen kleinen Vortrag über das Krallenorgan der Ghule gehalten hat.
"Federkrallen sind am besten für den Fernkampf geeignet, im Vorteil sind sie gegen Schwanzkrallen. Dafür können sie der starken Defensive der Panzerkralle nichts anhaben", hatte er erklärt. Ayato war im Nachteil, und es schien, als wäre er zu stur, um dies einzusehen.
Shuu verteidigte die Geschosse des jungen Ghuls weiterhin makellos.
"Ich arbeite nicht mit Tauben", sprach er in einem triumphierenden Ton.
"Aber dafür mit den Stammgästen des Gourmetrestaurants!"
Von den Dächern hinab sprangen etliche Ghule in vornehmer Kleidung, umzingelten den Phönixbaum wie eine Python seine Mahlzeit. Es gab kein Entkommen, jeder Fluchtweg war abgeschnitten. Langsam schlängelten sich die Gourmet-Ghule um die Mitglieder des Phönixbaums, und im Rampenlicht standen der große Gourmet und der schwarze Hase.

"Aber es gibt eine Sache, die der starken Defensive der Panzerkralle entgegenwirken kann", sprach Norman und legte den kleinen Laserpointer auf den Küchentisch. Gespannt blickte Emma zu ihm auf, während ihr Kopf auf ihren Händen ruhte.
"Obwohl sie spröde und eigentlich leicht zu zerschlagen ist, kann die Schuppenkralle die Panzerkralle mit Leichtigkeit zerschlagen."
"Warum aber kämpfen denn Federkrallenghule oft gegen Panzerkrallenghule?", fragte Emma, das hatte sie nicht ganz verstanden.
"Ganz einfach", meinte Norman und hob seinen Zeigefinger.
"Die Federkralle sorgt dafür, dass die Panzerkralle sich auf den Schutz vor den Projektilen fokussiert, dadurch verliert die Panzerkralle die Schuppenkralle leichter aus den Augen und besiegeln ihr Ende. Ken und Touka machen das oft so auf Einsätzen."

Wie in Trance blieb Emma stehen, erinnerte sich an diesen kleinen Vortrag. Unkontrolliert strömten vier tentakelartige, blutrote Krallen aus ihrem unteren Rücken, die Spitzen richtete sie auf die violette Panzerkralle.
"Emma?", hörte sie Hinami gedämpft. Ihr Körper schoss nach vorne und stach auf das Krallenorgan des Gourmets ein, durchbrach seine stabile Verteidigung durch rohe Kraft.
Sie sah die Welt wie durch eine Art dunklen Schleier, sie hatte keine Kontrolle über ihren eigenen Körper. Die Geräusche des Kampfes drangen gedämpft bis zu ihrem Ohr, doch verarbeiten konnte sie diese nicht.
Ein gruseliges Gelächter erschallte in ihrem Kopf, es war eine Frauenstimme, die ihren Namen rief.

"Was hast du vor, Emma?"

IDENTITY | [The Promised Neverland • Tokyo Ghoul FF]Where stories live. Discover now