✧ Kapitel 4 ✧

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Eiskalte Schneeflocken rieselten vom Himmel hinab. Sie tänzelten langsam in der Luft herum, bis sie sich auf dem blutbefleckten Erdboden niederlegten und dahinschmolzen. Leblose Körper waren überall auf der gesamten Insel Rushima verteilt, die meisten von den grausam zugerichteten Leichen trugen weiße Mäntel.
Der Einsatz auf der Insel Rushima war erfolgreich, man hatte sämtliche feindlich gesinnte Ghule vernichten können, jedoch gab es auf Seiten des CCG viele Opfer.

•••

Blinzelnd öffnete Emma die Augen, ein grelles Deckenlicht blendete sie. Ihr ganzer Körper war taub, nur ganz langsam gewann sie ihr Gefühl in den Gliedmaßen zurück.
Sie lag in einem fremdlich weißen Bett, der ganze Raum wurde steril gehalten.
Ein Mann in weißem Kittel betrat den Raum, ein Klemmbrett trug er in der Hand.
Mit einem freundlich wirkendem Lächeln nickte er ihr zu und setzte sich auf einen Hocker neben dem Bett.
"Sie sind ja bereits wach und scheinen bei vollem Bewusstsein zu sein... können Sie sich an ihren Namen erinnern?", fragte der alte Mann.
Emma sah hinauf zur Decke, sie musste überlegen. Sie kannte ihren eigenen Namen nicht mehr?
"Emma...", murmelte sie leise, sie wirkte unsicher. Was war nur passiert?
"Na das ist doch eine Information, mit der wir etwas anfangen können", sprach der Mann und stand wieder auf.
"Vor einer Woche konnten Sie nicht einmal reden, und beim Unfall vor einem Monat konnten wir Sie nicht identifizieren. Es haben sich aber zwei junge Männer gemeldet, die meinen, Sie zu kennen."

Zwei weitere Männer betraten den tristen Raum, sie sahen sie besorgt an.
Der Mann mit dem schwarzen Haar lächelte traurig, aber erleichtert, während der mit den hellen Haaren ganz nah an ihr Bett herantrat und sich auf einen Stuhl setzte.
Sie erkannte etwas Vertrautes in seinen blauen Augen, doch an mehr konnte sie sich nicht erinnern.
"Wie fühlst du dich?", fragte er mit einer zärtlich klingender Stimme.
Auch auf diese Frage fand sie keine Antwort. Sie fühlte sich einfach leer. Emma ließ ihren Kopf sinken und versteckte ihr Gesicht in ihren Händen. Sie wurde prompt in eine vorsichtige Umarmung gezogen.
"Nimm dir Zeit, ganz in Ruhe", sprach diese sanfte, vertraute Stimme. Emma wusste genau über ihre Gefühle gegenüber ihm Bescheid, aber ihr wollte der Name einfach nicht einfallen.
"Sie sollten sich auch Zeit nehmen", mahnte der Alte.
"Sie sehen doch, dass Norman ohne Probleme laufen kann!", protestierte der Schwarzhaarige verärgert.
"Norman", wiederholte Emma leise und freute sich.
"Norman!"
Norman strich behutsam über ihren Handrücken. "Du erinnerst dich", meinte er erleichtert. Sie wusste jedoch, dass ihr noch viel mehr Erinnerungen fehlten.
"Nehmen Sie es ernst, Herr Minerva", sprach der Alte ernst. "Sie sind auch noch nicht genesen. Und Sie sollten langsam wieder zurück auf Ihr Zimmer."
"Wollen Sie die beiden jetzt schon wieder trennen?", entgegnete der Schwarzhaarige. Norman hob beschwichtigend die Hand.
"Ray, beruhige dich. Der Arzt hat Recht..."
Emma versuchte sich an ihre Gedanken zu klammern. Ray, Norman, mit ihnen lebte sie in Tokyo, und Norman arbeitete in einem sehr gefährlichen Bereich. So viel fiel ihr wieder ein. Plötzlich riss sie die Augen auf. Norman war bei einem der gefährlichen Einsätze gewesen, deshalb war sie alleine draußen unterwegs gewesen!
Gerade, als der Weißhaarige gehen wollte, verstärkte sie den Griff um seine Hand.
"Norman... War der Einsatz erfolgreich?", wollte sie wissen. Er entgegnete ihr ein Lächeln.
"Ja, wir waren erfolgreich."

•••

Erschöpft saß Emma im Rollstuhl und starrte aus dem Fenster in die Leere. Sie hatte es fast geschafft, beinahe wäre sie wieder richtig gelaufen, ohne irgendeine Hilfe, doch dann gaben ihre noch viel zu schwachen Beinmuskeln nach.
Aufgeben kam allerdings nicht infrage, sie wollte endlich wieder ein normales Leben führen.

Die große Halle besuchte sie meistens nur mit einer Krankenschwester oder mit einem höher gestellten Arzt zusammen, für gewöhnlich betrat um diese Zeit kein anderer Patient den Saal.
Heute jedoch hörte sie, wie ein weiterer Patient mit einer Krankenschwester an den Gerätschaften das Laufen übte.
"Emma, wollen wir noch einmal üben oder lieber erst einmal eine Pause machen?", fragte die Krankenschwester fürsorglich. Emma nickte.
"Ich will nochmal üben", antwortete sie zielstrebig. Sie hielt sich an den zwei hölzernen, dünnen Stangen fest und zog sich auf die Beine. Langsam bewegte sie ihren Fuß nach vorne, trat auf. Behutsam ließ sie den anderen Fuß nachziehen, sie stand sicher auf beiden Beinen. Vor Selbstvertrauen strotzend, blickte sie nach vorne und fing an zu laufen, wenn auch nur schleppend.
Plötzlich starrte sie in das Gesicht einer Person, es war Norman. Der junge Mann sah sie ermutigend an, doch Emma erblickte die Krücken, von denen er sich stützen ließ. Zu allem Überfluss erkannte sie auch nur ein einziges Bein, welches sicher auf dem Boden stand.
Ihm fehlte ein Bein.

Vor Schock verließ sie die Kraft in den Armen, und durch die plötzliche Belastung knickten auch ihre Beine weg.
Die Krankenschwester war sofort zur Stelle und bremste ihren Sturz ab.
"Ist alles in Ordnung?" Eine weitere Krankenschwester eilte in den Raum, sie trug einen länglichen Koffer bei sich.
"Alles gut", zischte Emma durch zusammengebissene Zähne.
Nun trat auch der alte Mann in den Raum und stellte sich zu den Schwestern.
"Frau Kimura, wie sieht's aus?"
Sie schüttelte den Kopf. "Die Muskelentwicklung ist ziemlich langsam, obwohl sie gut isst", antwortete sie und blickte zu Emma, die sich wieder aufrappelte.
"Ist irgendein Supressivum in die Nahrung gelangen?", fragte der Arzt ernst, doch Frau Kimura schüttelte den Kopf.
Verstehend nickte er und wandte sich mit besorgtem Blick zu Emma.

"Emma, hör mir zu", sprach er und rieb sich den Nasenrücken.
"Bei der Operation ist etwas nicht ganz nach Plan gelaufen, wir müssen da nochmal ran."
Emma hob eine Augenbraue.
"Ist es sehr schlimm?", fragte sie nach.
"Nein", antwortete der Arzt prompt. "Sobald die Operation vorbei ist, können wir dich eigentlich gleich wieder entlassen."
Fröhlich wollte sie in die Luft springen, doch dafür war sie noch zu schwach. Endlich hatte sie die Möglichkeit, sich von den Krankenhauswänden und dem seltsam schmeckenden Essen zu verabschieden!
"Können wir sofort loslegen?", fragte sie erwartungsvoll, der Arzt sah sie überrascht an.
"Willst du denn überhaupt nicht über die Risiken aufgeklärt werden?"
Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte nur eines:
Diese Operation endlich durchführen lassen und dann endlich wieder normal leben.

IDENTITY | [The Promised Neverland • Tokyo Ghoul FF]Donde viven las historias. Descúbrelo ahora