Kapitel 28 Die Realität

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Scarletts Sicht:

V und Tanner zogen um. Ein neues Haus, ein neuer Anfang, jedenfalls hofften sie darauf. Ein großer Möbellaster stand vor dem schicken Haus, V wollte die alten Möbel mitnehmen, ein ganz so neuer Anfang war es dann doch nicht. Vielleicht hing sie einfach zu sehr an den Sachen. An den Erinnerungen. Es war merkwürdig, zuzusehen, wie sie das dunkelblaue Samtsofa hereintrugen, es in ihr neues Wohnzimmer stellten, überlegten, wie es gut aussehen könnte... und gar nicht mitmachen zu können. Ich konnte keine der Kisten mit reintragen, konnte nicht die Möbel arrangieren, konnte einfach nur von oben zusehen. V sah fertig aus, obwohl sie wie immer ihr bestes tat, es zu kaschieren. Sie war heute Morgen bei ihrem Vater gewesen, deshalb hatte sie sich zurechtgemacht, aber ihre Bluse war nicht ordentlich reingesteckt, ihre Gesichtsfarbe war blass (Übermüdung?) und sie hatte die schicken Schuhe von heute früh in alte dreckige Turnschuhe umgetauscht. Ich nahm an, der Grund dafür war nicht nur der Dreck und Staub, der beim Umzug anfiel. Sie hatte einfach momentan aufgegeben, viel auf ihr Äußeres zu achten. Die Freude über das neue Haus war abgeblättert wie schlecht aufgetragene Wandfarbe, die Sache mit Dr. Orwell hatte zu tiefe Risse verursacht. Ich erinnerte mich noch, wie V und ich als Kinder mal beschlossen hatten, nebeneinander zu wohnen, ich in einer rosa Villa, sie natürlich in einem weißen Haus, sie hatte nie eine rosa-Phase gehabt. Tja, sie hatte ihr weißes Haus, heute war der Umzug, aber ich konnte keinen Part dabei haben.
„Wollen wir jetzt mit Ausräumen anfangen?", hörte ich V von unten fragen.
„Au ja, Ausräumen!", freute sich Tjiara.
„Aber wo ist denn Tante Scarlett? Ich wollte ihr doch noch alle Sachen aus meiner Kiste zeigen!"
„Tante Scarlett beobachtet uns von oben", erklärte V der Kleinen.
„Oh, ach so."
„Genau", bekräftigte Tanner, „Sie ist auch weiterhin bei allem dabei, keine Sorge. Nur eben nicht körperlich."
Tjiara nickte etwas schüchtern. Sie war natürlich noch viel zu jung um die Situation zu verstehen, jedenfalls hoffte ich, dass sie dazu zu jung war. Ich wusste nicht, was V und Tanner ihr erzählt hatten, das mit mir passiert war - vielleicht ein Autounfall oder so was in der Art. Irgendwas mussten sie ihr ja erzählt haben, schließlich war sie alles andere als dumm. Eine Geschichte über einen Unfall wäre schlimm genug für sie zu verkraften, immerhin waren so schon ihre Eltern gestorben, also hatte V vielleicht doch eine andere Erklärung gewählt, aber mit hundertprozentiger Sicherheit konnte ich sagen, dass sie Dr. Orwell aus der Erklärung gelassen hatte.
„Guck mal, da ist Tante Scarlett", sagte V und zeigte nach oben. Skeptisch blickte Tjiara gen Himmel.
Ich beugte mich etwas über das Geländer vor, damit sie mich sehen konnte und lächelte ihr zu. Der Balkon im ersten Stock bot einen tollen Ausguck und außerdem mochte ich, dass er auch Schachbrettfliesen hatte, die hatten mir ja schon in Vs Eingangshalle in ihrem Elternhaus immer so gut gefallen. Der Grund dafür, dass ich bei nichts mitmachen konnte war, dass ich meinen Rücken auf keinen Fall belasten durfte, und meine rechte Schulter genauso wenig, und selbst die kleinste Kiste, die ich früher locker mit links (beziehungsweise mit rechts) hätte tragen können erlaubte mir niemand anzufassen, von Möbelstücken natürlich ganz zu schweigen. Auch jetzt hier in dem weißen Balkonstuhl spürte ich leichte Rückenschmerzen, wahrscheinlich war es mal wieder Zeit für die nächste Tablette.
„Die vorletzte Kiste!", rief Tanner mir triumphant von unten zu, während er einen Karton der gefühlt halb so groß war wie er selbst in Richtung Haus trug.
„Super, das schaffst du jetzt auch noch!"
Mit links konnte ich ihm zuwinken, mit rechts ging Winken bis jetzt eher so im Queen Elizabeth Style, besonders hoch bekam ich den Arm noch nicht. Das alles machte mir jedoch nicht so viel aus, wie man annehmen könnte, denn die Erleichterung und Überraschung, überhaupt hier zu sein, überhaupt am Leben zu sein, überhaupt das alles noch mitzuerleben war im Moment die wichtigste Emotion. Es war außerdem die einzige Emotion, auf die ich mich konzentrieren wollte. Ich hatte es geschafft, ich war frei, Dr. Orwell hatte nicht gewonnen, das war alles was zählte, oder nicht? Alles andere war begraben, zusammen mit den Erinnerungen, so wie wenn man alte Zeitungen, nicht gelöste Kreuzworträtsel tief in die Papiermülltonne stopfte. Ich wusste nicht, ob in meinem Kopf je eine Müllabfuhr dafür kommen würde, aber wenigstens würde all das Zeug nicht mehr offen herumliegen.
„Wollen wir das Sofa so lassen?", hörte ich Tanner von drinnen fragen und V und Tjiara gingen ebenfalls ins Haus.
„Nein, ich finde, es sollte eher an die andere Wand. Oder noch mehr nach links. Ach, keine Ahnung."
V war nervös. Wahrscheinlich hatte das auch mal wieder damit zu tun, dass sie heute Morgen mit ihrem Vater geredet hatte. Ich hörte ihre Schritte auf der Treppe.
„Na, willst du uns jetzt helfen zu dekorieren? Dabei ist ja nur Geisteskraft gefragt."
„Klar, ohne mich als Deko Expertin wärt ihr ja mal sowasvon aufgeschmissen!"
Ich erinnerte mich noch, wie ich V mal gezwungen hatte, sich endlich Wanddekorationen für ihr Zimmer zu besorgen und wir als Teenager zusammen ihr Zimmer umgestaltet hatten. Bis dahin hatte sie doch tatsächlich mit zu 90% kahlen Wänden gelebt, skandalös.
Sie wollte mir aus dem Stuhl helfen, aber ich winkte ab. Aus irgendeinem Grund war mir das peinlich, ich war doch keine 80! Auch den Rollstuhl, den sie mir im Krankenhaus gleich mitgeben wollten, nachdem ich es schon tagelang dort ausgehalten hatte, mich schieben zu lassen, hatte ich ausgeschlagen. Bevor ich mit V runterging kramte ich in meiner kleinen schwarzen Tasche nach einer neuen Schmerztablette und nutzte mein Glas Wasser auf dem Balkontisch, um sie herunterzuspülen.
„Die wievielte ist das eigentlich heute?", fragte V in ihrer typischen besorgten Art.
„Wenn du so weitermachst wird die Längsfalte zwischen deinen Augenbrauen sich permanent eingekerbt haben, bevor du 30 bist. Entspann dich, ich werde schon nicht enden wie Marilyn Monroe oder die ganzen anderen Stars. Ich hab alles unter Kontrolle."
„Gut."

Bis sie stirbt I Der erste Fall Where stories live. Discover now