Kapitel 14- Die Ungewissheit

3 0 0
                                    

Scarletts Sicht: Einen Moment lang fragte ich mich, ob ich getroffen worden war, ob ich sterben würde, wie Joe es angekündigt hatte, und nur den Schmerz noch nicht spürte. Es war, als würde die Zeit sich für einen Moment lang ausdehnen, einen Moment lang, in dem Joe mir in die Augen sah und ich ihm. Niemand hatte mehr die Kontrolle, in diesem Moment waren wir gleich. Wir beide hatten nun keinen Ausdruck mehr im Gesicht außer Schock und Verwirrung. Das war der Ausdruck, mit dem er starb.
„Hawkins? Hey, Hawkins, ist alles in Ordnung?"
Ich registrierte den Mann in der schusssicheren Weste nicht, hätte ihn wohl genauso wenig erkannt, wenn er eines seiner geliebten bunt gemusterten Hemden getragen hätte. Ich sah nur auf Joe, der umfiel wie eine Schaufensterpuppe. Sobald er vor mir auf dem Bauch lag sah ich das Loch in seinem Rücken, links von der Mitte.
„Die steht unter Schock", sagte eine härtere, jüngere Stimme.
„Komm mit. Komm Hawkins, wir gehen hier raus. Na komm."
Als Ralph meine Hand nahm, merkte ich, dass ich am ganzen Körper zitterte. Wie ein Roboter folgte ich ihm nach draußen, weg von der Leiche. Wenn das Team nicht gekommen wäre, wäre ich jetzt die Leiche in diesem Raum. Ich konnte noch gar nicht so richtig fassen, dass mir nichts passiert war. Nicht mal irgendwelche gescheiten möglichen letzten Worte waren mir durch den Kopf gegangen, schon wieder nicht. Gut, dass das jetzt auch nicht mehr nötig war. Ich war am Leben. Ich war noch hier.
„Da unten sind die Mädchen! Agent Voltaire redet gerade mit ihnen", sagte ein fremder Mann von einem SWAT Team, der gerade die Treppe heraufgekommen war. Die Mädchen. Agent Voltaire. Die Mission.
„Und von diesen Ratten? Ist da sonst noch jemand?"
Der Mann schüttelte den Kopf.
„Die müssen sich abgesetzt haben."
Abgesetzt. Wie Joe schon impliziert hatte. Er war der letzte gewesen. Und jetzt hatte das FBI keinen der Kriminellen in die Finger bekommen. Aber ich lebte noch. Ich war gerettet.
„Setz dich erstmal", wies Ralph mich an, sobald wir von dem Schiff runter waren und festen Boden unter den Füßen hatten. Ich wurde zu einem offenen Krankenwagen geleitet.
„Sie steht unter Schock", wiederholte er nun die Worte, die Jake direkt ausgesprochen hatte. Von beiden drang es jedoch gleichermaßen wie durch Watte an meine Ohren. Ich fand die Decke unnötig, die der Sanitäter mir umlegte. Alles fühlte sich an, als wäre es ein Traum oder Einbildung. Erst, als der Sanitäter meine linke Hand hochnahm, brachte mich der pulsierende Schmerz für einen Moment lang zurück zu meinen Sinnen und ich sog scharf Luft ein.
„Höchst wahrscheinlich gebrochen", murmelte der Rettungssanitäter.
„Aber sonst geht es ihr gut?", fragte Ralph ungeduldig, und dann zu mir gewandt: „Hawkins? Scarlett? Scarlett, kannst du mich hören?"
Ich versuchte, mich auf ihn zu konzentrieren, ihm zu antworten. Ja, ich konnte ihn hören. Sein besorgtes Gesicht vor meinem, mit den blauen Augen und der Kartoffelnase. Ralph aus meinem Team. Das Team war gekommen, ich war jetzt in Sicherheit. Es gelang mir, zu nicken. Hinter ihm erkannte ich Voltaire, die jetzt auch das Schiff verließ. Und... Janet! Ich hatte mein Versprechen also am Ende doch halten können. Die Freiheit galt jetzt für uns alle.

Ein leichtes Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Zwar fühlte sich alles immer noch sehr surreal an, aber langsam bahnte ich mir meinen Weg zurück in die Realität. Der Sanitäter legte mir ein Handtuch mit Kühlpack um das Handgelenk. Ralph sah mich weiterhin unschlüssig an.
„Janet!", rief ich, und winkte ihr zu, aber sie war zu weit weg und schien zu überwältigt von der Welt um uns herum um mich zu bemerken. Ralph folgte meinem Blick.
„Du hast es wirklich geschafft, Hawkins. Sie sieht zum ersten Mal den Hafen, zum ersten Mal wahrscheinlich seit Jahren wieder den Himmel. Dank dir."
Die Implikationen der plötzlichen Rettungsaktion im letzten Moment prasselten auch erst jetzt auf mich ein, wie durch eine Regenrinne ablaufendes Wasser. Nicht nur war ich noch am Leben, nicht nur hatte mein Team mir das Leben gerettet, nein, es gab noch viel weitläufigere Folgen: Die Mission war gelungen! Wir hatten das wirklich hingekriegt.
„Und dank euch", antwortete ich, „Ihr seid auch wirklich im allerletzten Moment gekommen."
Ralph lachte.
„Tja, wir wollten eben den dramatischen Effekt haben."
Ich wusste nicht, wieso die Realisierung erst in diesem Moment kam, aber auf einmal fragte ich mich, wieso es eigentlich Ralph war, der besorgt vor dem Krankenwagen stand und mich langsam aus meinem Schock herausholte. Wieso es Ralph, Jake und Voltaire gewesen waren, die mit dem SWAT team hier angekommen waren. Irgendwas war da noch, was mit diesem Gedanken verbunden sein sollte, aber ich fand den Ansatz nicht, so wie wenn man ein ein Knäuel aus verschiedenen dünnen Ketten hatte und eine bestimmte zum Ausgehen herauskramen wollte, aber sie zu verheddert waren.
„Wo sind denn eigentlich V und Tanner?", fragte ich also, denn es kam mir reichlich komisch vor, dass ausgerechnet V, die mir noch hatte ausreden wollen, Undercover zu gehen, nicht bei der Rettungsmission dabei gewesen war. Vielleicht hatte sie noch immer nicht die Erlaubnis, wieder Außendienst zu machen - aber wieso war Tanner auch nicht hier?
„V und Tanner?", nannte er sie ebenfalls bei ihren Vornamen, „Ja, jetzt wo du es sagst, gute Frage eigentlich. Die wollten noch irgendeine Spur überprüfen fahren, das ist aber schon wieder ein bisschen her... Hey, Dolores, was ist eigentlich mit Sterling und Briggs?"

Bis sie stirbt I Der erste Fall Where stories live. Discover now