Kapitel 15- Warten

5 1 0
                                    


Scarletts Sicht: Mein Handy hatte schon ein paar Mal geklingelt, bevor ich so richtig wach wurde. Langsamer als sonst tauchte ich aus dem Schlaf heraus wieder an die Oberfläche der Realität, und ohne überhaupt nachzudenken oder drauf zu schauen, wer dran war, meldete ich mich am Telefon mit „Ja hallo?"
„Scarlett! Wohin bist du eigentlich seit Stunden verschwunden?"
Tanners Stimme zu hören fühlte sich an, wie aus einem stickigen Raum heraus in die Kälte nach draußen zu treten. Es war Zeit für die Wahrheit.
„Ich bin im Hotel", antwortete ich vorsichtig, voller Angst vor den Worten, die er als nächstes sagen könnte.
„Ah, holst ein bisschen Schlaf nach? Kann ich verstehen. Aber vielleicht willst du demnächst wieder kommen - Vs Zustand ist jetzt stabil!"
Ich brauchte einen Moment, bis ich die Worte in ihrem ganzen Sinn erfasste. Stabil?
„Sie ist also außer Lebensgefahr?", stellte ich die einzig wichtige Frage.
„Laut dem Arzt, der gerade hier war ja!"
Jetzt, wo ich die Neuigkeiten kannte, fragte ich mich, wie mir die Erleichterung in Tanners Stimme nicht vorher hatte auffallen können.
„Es war anscheinend Fingerhutgift, das ihr in den Drink gemischt wurde, und wie es aussieht auch eine ziemlich hohe Dosis. Wenn sie nicht schnell genug ins Krankenhaus gekommen wäre..."
Ich stoppte Tanners düsteren Gedankengang in seinen Anfängen: „Können wir sie denn schon sehen? Können wir zu ihr rein?"
„Sie wird noch länger nicht aufwachen, die Ärzte wollen sie noch bis morgen im künstlichen Koma halten, aber ja, uns ist ab jetzt erlaubt, uns zu ihr ins Zimmer zu setzen. Ja, tatsächlich rufe ich dich auch von ihrem Zimmer aus an."
Diese Nachricht ließ mich mein ganzes Bild, das ich im Kopf von seiner Situation hatte umschmeißen. Irgendwie war es seltsam, dass er nur ein paar Meter entfernt von V mit mir telefonierte, aber es keine Möglichkeit von „ich gebe dich mal eben weiter" oder „grüß sie schön" gab. Sie lag einfach da und bekam höchstwahrscheinlich gar nichts mit.
„Morgen wird sie aufwachen, meinten die Ärzte?"
„Sie wollten sich noch nicht festlegen, aber ja, der eine meinte zu mir, wenn alles gut weitergeht dann wahrscheinlich."
Mir fiel auf, dass ich keine Ahnung hatte, wie lange es bis morgen noch dauern würde - wie viel Uhr war es überhaupt? Wie lange hatte ich geschlafen? Angenehm überrascht sah ich durchs Fenster, dass es draußen bereits dunkel war. Das bedeutete, bis zum morgigen Tag wären es nicht mehr so viele Stunden.
„Wie spät ist es eigentlich?", frage ich Tanner abrupt, „Also wie lange dauert es noch bis morgen?"
„Es is erst halb sechs am Abend. Aber das wichtigste ist, dass es ein morgen geben wird."

Sobald wir auflegten schnappte ich mir meinen Hotelzimmerschlüssel und rief mir ein neues Taxi, dieses Mal für genau die entgegengesetzte Strecke: zurück zum Marinekrankenhaus. Tausend Gedanken waberten auch jetzt noch durch meinen Kopf. Da war die Erleichterung, dass Vs Zustand nun stabil war, aber der große erlösende Moment war bereits verebbt und hatte Platz gemacht für die Rinnsale von Zweifeln, die sich nun durch meine Vorstellungen bahnten. Wer hatte gesagt, dass sie nun stabil war? Ein einziger Arzt, mit dem Tanner geredet hatte? Und wer konnte garantieren, dass sie stabil bleiben würde? Oder dass sie morgen aufwachen würde? Nervös knibbelte ich an meiner Nagelhaut herum, bis ich es übertrieb und ein kleiner Tropfen Blut sich neben meinem rechten Daumennagel bildete. Na toll, und ein Taschentuch hatte ich natürlich auch nicht hier.
„Das macht 33,90 Dollar", sagte der Taxifahrer, als wir vor dem Krankenhaus vorfuhren. Ich reichte ihm 35.
„Stimmt so."
Immerhin, ganze sieben Dollar billiger als das Taxi von heute Vormittag, was wohl auch daran lag, dass ich dieses Mal nicht extra Geld von oben aus dem Hotelzimmer holen musste. Der Taxifahrer und ich bedankten uns beide, dann verabschiedete ich mich und ging zielstrebig auf die automatisch zur Seite gleitenden Türen zu. An meinem ganzen Daumennagel war mittlerweile Blut und ich presste meinen Zeigefinger darauf, um es ein wenig einzudämmen. Scheiße, wie doll man an den Fingern immer blutete. Beim Umsehen im Krankenhaus fiel mir auf einmal auf, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich Tanner und vor allem V eigentlich vorfinden würde - als ich das Krankenhaus verlassen hatte, war ich wie in Trance gewesen, sodass ich nun nicht einmal sagen könnte, wie viele Treppen ich eigentlich genommen hatte, um ins Erdgeschoss zu kommen. Eine? Zwei? Vielleicht sogar drei? Gerade wollte ich Tanner wieder anrufen, als ich auf einmal einen vertrauten dunklen Lockenkopf sah.
„Valerie!", rief ich überrascht und umarmte sie spontan. „Du bist auch hier?"
Sie lächelte leicht.
„Na klar, ich bin doch im selben Team wie ihr und auch wenn ich V nicht so gut kenne, waren wir doch zusammen auf der Academy! Hab's nur zehn Minuten ausgehalten, Krankenhäuser sind sowas von nicht mein Ding... aber hey, wenn V aufwacht, kannst du ihr ausrichten, dass ich auch kurz da war."
Bei Valeries Worten löste sich wenigstens ein Teil meiner Beklemmung auf wie eine Badekugel im Schaumbad. Ihre lockere, direkte Art, ihre Zuversicht, ihre Worte wenn V aufwacht, nicht im Sinne von falls, nein, im Sinne von bald, wenn. Ihre Hoffnung färbte auf mich ab.
„Ja, das werde ich ihr ausrichten", sagte ich also, und versuchte dabei, fest an meine Worte zu glauben.
„Wo komme ich denn eigentlich zu V?"
„Sie ist nicht mehr auf der Intensivstation, du musst also einfach die Treppe bis zur vierten Etage hochgehen, ich hab' mir das genaue Zimmer nicht gemerkt, aber wenn du einfach geradeaus gehst kommst du zur Information und kannst da nachfragen. Am Anfang meinten sie nur Familie darf zu ihr rein, da hat Tanner richtig Drama geschoben hab ich gehört, also haben sie ihn reingelassen, und mittlerweile ist es auch Freunden erlaubt."
Ich konnte mir vorstellen, wie sehr Tanner sich da aufgeregt hatte, als die Mitarbeiter gesagt hatten, nur Familie dürfte zu V. Irgendwie bereite ich es nun, das verpasst zu haben, aber der Schlaf war eben auch nötig gewesen. Ich konnte mir vorstellen, warum es nun auch Freunden erlaubt war, V zu besuchen - von der Familie gab es schlicht und einfach niemanden, der kommen konnte beziehungsweise wollte. Ihre Mutter war tot, ihr Vater interessierte sich nicht genug für sie, von ihrer großen Schwester hatte vermutlich niemand eine Nummer und ihre Großeltern lebten auf einem anderen Kontinent. Einen Moment lang wurde ich von dem Bedürfnis überflutet, selbst Grembold anzurufen, und ihn dafür fertig zu machen, dass er so ein herzloses Arschloch war, aber dann fiel mir ein, dass V es wahrscheinlich gar nicht mal so gut fände, wenn ihr Vater kommen würde. Es war einfacher ohne ihn.
„Da bin ich froh. Dann werde ich jetzt mal zu ihr gehen", erklärte ich und Valerie nickte.
„In Ordnung, aber Scarly..."
Sie sah mir in die Augen und irgendetwas in ihrem Blick verunsicherte mich, da es ungewohnt ernsthaft war.
„Du darfst nicht zu schockiert sein, wie sie aussieht."

Bis sie stirbt I Der erste Fall حيث تعيش القصص. اكتشف الآن