f ü n f u n d d r e i ß i g

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„Wo ist Kai?", fragte ich schließlich, als ich ihn nicht unter den Anwesenden am Tisch entdecken konnte.

„Der ist raus gegangen." Helena zuckte ahnungslos mit den Schultern. „Meinte ihr habt noch eine Rechnung offen."

Während Lea und Jan mich fragend ansahen, wusste ich genau, was sie meinte. Mit den Worten: „Ich bin dann auch mal kurz draußen." flitzte ich auch schon los, um Kai zu suchen.

Er wollte anscheinend seine Verstecken-Rechnung begleichen, weil er mich beim letzten Mal Verstecken spielen eine halbe Stunde lang gesucht hatte und jetzt war ich anscheinend dran mit suchen. Aber eine halbe Stunde würde ich niemals brauchen, niemals!!

Ich lief einmal um das Restaurant herum und begann zu suchen. Wir bestellten sowieso jedes Mal das gleiche Essen, sodass unsere Eltern unser Essen mit bestellten und uns reinrufen würden, sobald es da war.

Ich suchte und suchte, vergeblich. Ich konnte Kai einfach nicht finden. Gefühlt hatte ich jeden Zentimeter hier draußen schon drei Mal abgesucht und als meine Mama dann auch noch rief, dass das Essen da war, machte sich Enttäuschung in mir breit.

„Kai, du kannst rauskommen!", rief ich niedergeschlagen. "Es gibt essen!"

Ich lief schon mal zum Eingang zurück und blieb kurz stehen, um zu lauschen. Nichts rührte sich. „Kai!", rief ich erneut, als mein Blick auf zwei große, blaue Müllcontainer fiel. Ein Geistesblitz durchfuhr mich und ich lief zu den Containern, kletterte auf einen Stein und hob den Deckel an.

„Hab dich!", schrie ich lachend, als ich Kais braunen Lockenkopf zwischen den ganzen Pappkartons entdeckte. "Ich hab gewonnen!", behauptete ich sofort, obwohl ich keine Ahnung hatte, wer von uns beiden nun länger gesucht hatte. „Niemals, mir ist vom langen Sitzen hier ja schon mein Po eingeschlafen!!"Kai stimmte in mein Lachen mit ein und versuchte aus dem Container zu klettern.

„Ey Josy, du Esel!", beschwerte er sich, als er den Deckel beim rausklettern nicht festhalten konnte und wieder in den Container plumpste. „Jetzt hör doch mal auf zu lachen und hilf mir lieber aus dem Müllcontainer! Ich hab Hunger!"

Mit diesem Satz begann wohl unser schönstes Weihnachten, was wir je gemeinsam hatten. Und auch unser letztes...

~Gegenwart~

Weihnachtsmorgen. Der 24. Dezember. Mit kalten Füßen wachte ich an diesem Morgen auf dem Heuboden auf und hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Wir waren wohl gestern Abend einfach hier an unserem gemeinsamen Ort, unserm Rückzugsort seit wir klein waren, eingeschlafen. Lediglich die kalte Wintersonne, die gerade dabei war aufzugehen zeigte mir, dass die Nacht schon vorüber war. Ich drehte mich auf die andere Seite und musste feststellen, dass ich alleine war. Kai war also schon weg.

Ein Ziehen machte sich in meiner Brust breit, obwohl ich es ihm nicht verübeln konnte. Er hatte sich mir gestern Abend bis in seine tiefsten und schmerzhaftesten Erinnerungen geöffnet und Kai war ein Mensch, der heute Morgen beim wach werden vermutlich erstmal etwas Abstand gebraucht hatte. Abstand zu mir und Abstand zu seiner Vergangenheit, die ich nun kannte.

Ich erhob mich aus dem Heu und streckte meinen Rücken, der trotz der guten Polsterung ein bisschen wehtat. Ich war es einfach nicht mehr gewohnt, hier oben auf dem Boden zu schlafen. Gerädert machte ich mich auf den Weg die Leiter runter und es fühlte sich tatsächlich so an, als hätte ich kaum geschlafen. Meine Knochen taten weh und mein Kopf fühlte sich matschig an, als hätte er die ganze Nacht dafür gebraucht, um all die neuen Informationen zu verarbeiten.

melody of memories | kai havertz Where stories live. Discover now